Raum 1
Heteronormativität und Empowerment
Wer bestimmt, wie ich leben soll?
Wer bestimmt, wie ich leben soll?
Heteronormativität ist das unserer Gesellschaft zugrundeliegende Geschlechtermodell, in dem es grundsätzlich nur Männer und Frauen gibt. In dieser traditionellen Geschlechterordnung ist Heterosexualität vorgesehen. Geschlecht wird aufgrund von körperlichen Merkmalen bestimmt und ist mit Geschlechterrollen verknüpft. Diese Normen bilden auch heute noch den Maßstab für das, was in unserer Gesellschaft anerkannt wird oder als abweichend gilt.
Wer vom klassischen Zwei-Geschlechter- und Liebesmodell von Frau und Mann abweicht, kann überall im Alltag auf Diskriminierung,
Fremdbestimmung oder Ausgrenzung stoßen und mit struktureller und körperlicher Gewalt konfrontiert werden.
Neben der Ablehnung ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität erleben viele queere Personen Ungleichheit durch Armut, Rassismus und andere Formen von Mehrfachdiskriminierung.
Seit jeher stellen sich queere Bewegungen all diesen beschriebenen Ungerechtigkeiten entgegen und haben dabei bereits viele Erfolge erzielt.
Dieser Raum zeigt beispielhaft einige Kämpfe, Katalysatoren und Meilensteine queerpolitischer Bewegungen in und über Deutschland hinaus seit den 1970er Jahren.
Aktionen zum IDAHOBITA* gegen heteronormative Strukturen
Jedes Jahr am 17. Mai findet der Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter-, Trans* und Asexuellen-Feindlichkeit (IDAHOBITA*) statt. Zu diesem Anlass bildet sich seit 2011 auch in Göttingen fast jedes Jahr ein Aktionsbündnis. Das wechselnd zusammengesetzte Bündnis steht für die Vielfalt und Selbstverständlichkeit sexueller und geschlechtlicher Selbstbestimmung ein und verurteilt die noch immer massiven Diskriminierungsstrukturen auf allen gesellschaftlichen Ebenen. 2022 wurde eine Plakatausstellung erarbeitet und an zahlreichen Orten sowie online gezeigt, um darauf hinzuweisen, dass queere Personen vielfach ihr Leben lang mit Diskriminierung konfrontiert sind.
Diese Gruppen arbeiteten im IDAHOBITA*-Bündnis Göttingen 2022 mit: Aspecs Göttingen, BiPlus Göttingen, equity*, Göttinger Aidshilfe, Queeres Zentrum Göttingen, SCHLAU Göttingen
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Rosa von Praunheim: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“
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Der Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt von Rosa von Praunheim (1971) sollte vor allem die Homosexuellen selbst provozieren. Er prangerte nicht bloß soziale und rechtliche Diskriminierung an, sondern deckte Gründe für das angepasste Verhalten der Schwulen* auf. Ziel war ihre persönliche und kollektive Emanzipation: Sie sollten sich organisieren und solidarisch für eine freie Gesellschaft kämpfen. Der Film wirkte als Agitationsmittel, tourte durch die BRD und wurde immer mit anschließender Diskussion gezeigt, begleitet vom Filmemacher und Martin Dannecker (wissenschaftlicher Mitarbeiter am Film). Der Film löste eine Gründungswelle von Schwulen*gruppen aus und gilt damit als Katalysator der Schwulen*bewegung in der BRD. Er stieß auch Diskussionen unter Lesben* an und führte zur Gründung von Gruppen, die sich anfangs schwule* Frauen nannten.
Aids-Krise
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Anfang der 1980er Jahre war Aids eine neue, namenlose und grausame Krankheit, an der zunächst vor allem schwule und bisexuelle Männer erkrankten und starben. Politik und Medien waren überfordert. In Deutschland gründeten sich an vielen Orten Aidshilfen, um sich der drohenden Repression gegen die schwule Community entgegenzustellen und um sich für die Aufklärung der Bevölkerung einzusetzen.
Der damaligen Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth ist es zu verdanken, dass der Kampf gegen Aids in Deutschland auf die Säulen von Aufklärung und Selbstverantwortung gestellt wurde statt auf Zwangsmaßnahmen.
Die Aidshilfen entwickelten sich schnell zu zentralen und anerkannten Akteur*innen für Beratung, Prävention und Krankheitsbegleitung. Lange Zeit war die schwule Community traumatisiert durch das große Sterben. Das noch wenig erforschte Medikament AZT verursachte schwere Nebenwirkungen. Erst ab 1996 kamen lebensverlängernde Wirkstoff-Kombinationen (ART) auf den Markt, die gleichzeitig Hoffnung und Skepsis auslösten. Die ART holte unzählige Schwerkranke ins Leben zurück.
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„Der Begriff ‚schwul‘ wird vor allem in jüngeren Generationen immer noch benutzt, um Menschen zu beleidigen oder zu provozieren. Die Verbindung mit HIV und Aids, also dass schwule Männer als Hauptbetroffenen-Gruppe diffamiert werden, hat jedoch abgenommen über die letzten Jahrzehnte. Das liegt meiner Einschätzung nach unter anderem daran, dass mit den immer weiter zurückgehenden Neuinfektionen das Thema HIV/Aids – zu Recht – an Dramatik verloren hat. Menschen mit HIV können heute mit wirksamer und möglichst frühzeitiger Therapie genauso gut und lange leben wie Menschen ohne HIV.
Dass Menschen ganz selbstverständlich mit HIV leben können, dass sie Sex haben können, dass sie gesunde Kinder bekommen können und ihnen jeder Beruf offensteht, verbreitet sich als allgemeiner Wissensstand in der Bevölkerung immer mehr. Damit baut sich dann endlich auch das Stigma weiter ab, und der nach und nach geöffnete dunkle Vorhang, der sich seit den frühen 1980er Jahren über das Thema HIV/Aids gelegt hat, verschwindet hoffentlich bald auch ganz.
Simone Kamin, *1974, Geschäftsführungsteam Göttinger Aidshilfe, Interview 2022
Die medizinische Dimension
Die soziale Ebene
Gender Trouble
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Judith Butler: Gender Trouble
Die Werke von Judith Butler, ein*e international anerkannte US-amerikanische Philosoph*in und Feminist*in, inspirierten in Deutschland zahlreiche, zum Teil heftig geführte, bewegungspolitische und akademische Debatten um die vermeintliche Natürlichkeit von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit.
Butler kritisiert die Gewalt eines Denkens, das Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität als Norm voraussetzt. Bereits diese Denkmuster sind laut Butler eine Form von Gewalt. Diese Gewalt äußert sich unter anderem darin, dass überall im Alltag Menschen das eine oder andere Geschlecht haben oder darstellen müssen und sich dementsprechend nach Verhaltens- und Kleidernormen richten müssen.
Butler plädiert dafür, den Körper als gelebten Ort der Möglichkeiten zu betrachten. Dabei richtet Butler den Fokus auf die Uneindeutigkeit von Körpern, Identitäten und Begehren. Butler ruft dazu auf, sich zu fragen, was jede*r jenseits dieser Geschlechternormen werden könnte und möchte.
Das Transsexuellengesetz (TSG)
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1981 trat in der BRD das sogenannte Transsexuellengesetz (TSG) in Kraft, ein Sondergesetz, das trans* Menschen diskriminiert und pathologisiert.
Trans* ist ein Oberbegriff für Menschen, die sich nicht oder nicht ausschließlich mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen nach ihrer Geburt zugewiesen wurde. Viele trans* Personen wollen ihren Vornamen und ihren Personenstand ändern, häufig werden auch geschlechtsangleichende Maßnahmen angestrebt.
Viele Vorschriften des Gesetzes wurden inzwischen für verfassungswidrig erklärt: Zum Beispiel mussten sich bis 2011 alle trans* Personen vor einer Personenstandsänderung sterilisieren lassen und geschlechtsangleichende Operationen vornehmen lassen, auch wenn sie dies gar nicht wollten.
Auch heute noch sind trans* Personen einem entwürdigenden langwierigen Verfahren ausgesetzt und müssen zwei psychiatrische Gutachten vorlegen, wenn sie ihren Personenstand ändern lassen wollen. Trans* und queer-politische Organisationen kämpfen für die Abschaffung des TSG.
Kampf gegen das TSG und für ein Selbstbestimmungsgesetz
Demütigende Prozesse
Demütigende Prozesse
„Trans* und abinäre/nichtbinäre Personen werden noch immer gezwungen, in teils aufwändigen und häufig demütigenden Prozessen ihre Identität zu beweisen. Zur Änderung von Personenstand und Vornamen sind kostenintensive psychiatrische bzw. psychologische Gutachten immer noch genauso notwendig wie ein Gerichtsverfahren.
Trans* Personen können nicht autonom über ihr Sein bestimmen, sondern sind auf sogenannte „Expert*innen' angewiesen, sie darin zu bestätigen."
Trans*Beratung Göttingen, in: „Lebensstationen Queerer Personen (LSBTIAQ*)", 2021 / 2022
Selbstbestimmungsgesetz
Selbstbestimmungsgesetz
„Wir fordern die Abschaffung des bereits in Teilen für verfassungswidrig erklärten Transsexuellen-gesetzes. Wir fordern ein Selbstbestimmungs-gesetz, damit eine freie und unbürokratische Änderung von Namen und Geschlechtseintrag ohne erniedrigende Begutachtung und teure Gerichtsverfahren möglich ist. Geschlechtsan-gleichende Behandlungen müssen frei zugänglich sein und zudem vollständig von der Krankenkasse übernommen werden."
Politische Forderung des CSD-Aktionsbündnisses Göttingen, 2021
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„ich wollte, dass mein neuer name und die weibliche anrede überall verwendet wird, in allen amtlichen dokumenten, für mein konto und den grundbucheintrag für mein haus. die antragstellung beim gericht war unkompliziert und locker. eine bescheinigung, die ich bei ausweiskontrollen mit vorzeigen konnte, gab mir sicherheit bis zum abschluss des prozesses. das schlimmste war, die gutachten zu lesen. ich wurde durchgängig missgendert und wie ich beschrieben wurde, empfand ich als entwürdigend. nach der beschlussfassung musste ich eine neue geburtsurkunde beantragen und mit der den neuen ausweis. danach habe ich bei 20 verschiedenen stellen die namensänderung bekanntgegeben.“
Liv Teichmann, *1964, 15.09.22, Göttingen
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„Mir ist wichtig, dass ich entscheide, wie über mich gesprochen wird. Ich komme vom Dorf, wo Neuigkeiten sich durch Klatsch und Tratsch schnell verbreiten. Ich habe einen Weg gesucht, den Ton selbst zu setzen, und beschlossen, diese Anzeige in der Lokalzeitung zu schalten. So ist klar, was Sache ist und wie meine Familie und ich mein trans* Coming-out verstehen: Kein Drama, nur eine Korrektur.“
Noah, *2000, 15.09.22, Göttingen
Queere Elternschaft
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Gleichgeschlechtliche und andere queere Eltern sind per Gesetz dazu gezwungen, die gemeinsame elterliche Sorge für ihr(e) Kind(er) über ein aufwändiges Stiefkindadoptionsverfahren zu erwirken.
Dem liegt u.a. das deutsche Abstammungsrecht zugrunde, das grundsätzlich von heterosexueller Elternschaft ausgeht, ausschließlich Frauen als gebärende Personen und ausschließlich Männer als zeugende Personen versteht.
Kinder in queeren Familien werden gesetzlich benachteiligt: Bei zwei Müttern muss die zweite Mutter ihr Kind adoptieren, um in die Geburtsurkunde des Kindes eingetragen zu werden und die elterliche Sorge zu erhalten.
Bei gemischt-geschlechtlichen verheirateten cis Paaren wird der Ehemann automatisch als Elternteil in die Geburtsurkunde eingetragen und erhält das Sorgerecht – unabhängig davon, ob er biologisch der Vater ist oder nicht.
Initiativen wie #nodoption und #PaulaHatZweiMamas fordern die Anerkennung von Elternschaft ab Geburt und eine Änderung des Abstammungsrechts.
Kampf für die Gleichstellung queerer Elternschaft
Lesbische, bisexuelle, nicht-binäre, trans* und intergeschlechtliche Personen, die Kinder bekommen wollen, schwanger sind und gebären, werden im rechtlichen und medizinischen System diskriminiert. Beispielsweise gilt ein trans* Mann, der ein Kind gebärt, rechtlich grundsätzlich als Mutter seines Kindes. In diesem und anderen Fällen von queerer Elternschaft wird das Kindeswohl und das Persönlichkeitsrecht von Eltern verletzt.