Raum 3

Statements von Zeitzeug*innen

Wer bin ich und wie will ich leben?

Wer bin ich und wie will ich leben?

Themen in diesem Raum…

Coming-out

Akzeptanz + Diskriminierung

Leben in Göttingen

Bedeutung der queeren Szene

Zugehörigkeiten + Ausschlüsse

Engagement

Welche Erfahrungen habe ich mit Coming-out?

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Sich selbst finden und nach außen zu sich stehen – das bedeutet Coming-out. Mal vorsichtig, mal laut, mal privat und mal öffentlich, mal strategisch und mal politisch, so unterschiedlich findet die Auseinandersetzung mit sich selbst und anderen statt.

Und sie endet nie. In jeder neuen sozialen Situation fragen sich queere Menschen, wie sie sich anziehen wollen, ob sie gegebenenfalls von ihrer intimen Beziehung erzählen und wie sie sich positionieren wollen. Gleichzeitig eröffnet ein Coming-out die Chance, die eigene Lebensweise zu zeigen und darin anerkannt zu werden.

„Die Leute haben es dann irgendwann akzeptiert“

Hermann Miotke

„Also ich hab‘ ja meine Freunde immer mit nach Haus‘ gebracht. Ich hab‘ da auch keinen Hehl draus gemacht, allerdings habe ich nicht die Einzelheiten, sowas habe ich gar nicht erzählt. Aber ich wurde mehrfach von meiner Großmutter gefragt, ob ich ihr irgendwas zu erzählen hätte. Und dann hab‘ ich immer gesagt: Nööö, eigentlich nicht. Ich hatte auch keine Lust, mit ihr darüber zu reden. Und das war’s eigentlich. Also im Grunde haben sich die Leute ihre Meinung selber gebildet. Die haben ja gesehen, da ist keine Frau, da fehlt eine. Der hat immer Männer bei sich. Und die Leute haben’s dann irgendwann akzeptiert.“

Hermann Miotke, *1950, Interview 2022

„Ich hatte große Probleme mit meinem Coming-out. Ich hatte es auch sehr spät erst, da war ich schon 27 Jahre alt – wusste vorher schon seit ein paar Jahren letztlich, dass ich schwul bin, wollte es nicht so richtig wahrnehmen. Ich hatte mich dann mal getraut, in die schwule Bar zu gehen, aber da waren wahnsinnig Ängste mit verbunden. Und für mich war das wahre Coming-out dann, als ich es geschafft habe, in die Schwulengruppe zu gehen. Das war damals die Homosexuelle Aktion Göttingen, und das war total gut für mich. Ich bin selbstsicherer geworden, ich habe Rückhalt bekommen mit Leuten, ich habe mir einen Freundeskreis aufgebaut.“

Klaus Müller, *1952, Interview 2022

„Lesbenbüchertisch mit lila Vorhängelchen“

Regina Meyer

„Kennst du die Göttinger Uni? Also das Hauptmensagebäude auf dem Hauptcampus, da waren immer Büchertische, und da war auch ein Lesbenbüchertisch, mit so einem lila Vorhängelchen, zwei Frauensymbole ineinander gehakelt und irgendwelche Lesbenromane, Lesbentheorie, Kampfliteratur. Das war so mein erster Anlaufort, bei dem ich gesagt habe, das ist nicht nur soziale Bewegung, da ist auch das, was ich will, lesbisches Leben kennenlernen! Zu den Frauen am Tisch bin ich dann ganz schüchtern – die graue Maus vom Land – hin. Das war der erste Anlaufort, um überhaupt mal Kontakt zu machen, und der zweite Anlaufort war tatsächlich das, was es immer noch gibt, der Frauenbuchladen, Burgstraße. Dort gab es Aushänge. […] Und der dritte Anlaufort war das Frauen-Zentrum, noch nicht FrauenLesbenZentrum, sondern das alte Hexenhäuschen in der Kurzen-Geismar-Straße. Das war so ein dreistöckiges, enges, hohes Häuschen mit einer engen Treppe drin, wo sich unten zu Partys, vielleicht 50, 100 Frauen, gedrängt haben. […] Aber an sich war das winzig. Und oben waren Seminarräume. Da habe ich dann auch eine Kollegin und noch immer meine beste Freundin hier in Göttingen kennengelernt, die genau wie ich zum Studium neu war, und wir haben uns dann an einem Themenabend getroffen. Den haben wir in dem Hexenhäuschen mitgemacht und danach sind wir noch was trinken gegangen auf dem KAZ-Platz, und dann haben wir uns die Lesbenszene zusammen erobert.“

Regina Meyer, *1962, Interview 2022

„Coming out als schleichender Prozess“

Sabine Abel

„Ja, also mein Coming-out, das ist ein schleichender Prozess gewesen. Jedenfalls irgendwann war ich in eine Tennisfreundin schwer verliebt, und wir sind lange umeinander herumgeschlichen. Irgendwann ist es dann, das hat auch lange gedauert, zu einem Kuss gekommen, ich weiß aber gar nicht genau wie. Und dann war‘s das wieder, und man war irgendwie erschrocken und dachte sich ‚Nein, nein, nein, das kann nicht sein!‘. Und dann hatte ich noch eine Freundin in der Oberstufe, und wir haben uns irgendwann ineinander verliebt. Ich war zwar sehr schüchtern, habe aber trotzdem versucht, sie zu umgarnen. Also ich habe sie jeden Morgen mit dem Auto abgeholt, mit einer extra gemischten Kassette, Autotür aufgehalten und so weiter und so weiter. Verführt hat sie mich dann. Da hab‘ ich meinem Vater eine sehr gute Flasche Wein aus dem Keller geklaut und darauf hat sie sich gedacht, sie müsste mich küssen. Und es kam dazu, wozu es kommen musste. Wir hatten herrlichen Sex und es war völlig in Ordnung, aber wir hatten es heimlich gelebt, sie hatte damals einen Freund. Ich wollte das dann ändern, weil ich dachte, das ist es jetzt. Für sie war es auch schön, aber sie wollte eben das andere. Dem bin ich übrigens öfter in meinem Leben begegnet, dass man dieses Abenteuer genossen hat, aber dann zu seinen heterosexuellen Wurzeln zurückgekommen ist. Das war mein Coming-out, also sexuell und vor mir, und meine Freunde wussten das auch.“

Sabine Abel, *1962, Interview 2022

„Lesbische Frauen bei uns in der Küche“

Johanna Kaul

„So genau weiß ich das auch nicht, aber ich denke so im Alter von 10 bis 12 Jahren war mir das irgendwie klar, dass da irgendwas anders ist. Was für mich aber nie ein Problem war. Ich hatte zum Glück immer eine sehr freie und anti-autoritäre Kindheit und Erziehung, wo das nie ein Problem war. Meine Eltern waren beide aktiv in der Friedensbewegung und in der Frauenbewegung, und dadurch waren im Prinzip viele alternative Menschen bei uns im Haus. Ich habe ganz viele Frauen und lesbische Frauen bei uns in der Küche getroffen. Das war einfach so mein Umfeld, in dem ich aufwachsen konnte, und dadurch waren diese sogenannten alternativen Lebensformen eigentlich so für mich das Normale, das immer da war. Das war für mich so ein super Startrahmen, um gut in dieses queere Leben zu kommen.“

Johanna Kaul, *1971, Interview 2022

"Da ist mehr Bewegungsfreiheit drin"

Simone Kamin

„Ich beobachte an mir selbst, dass der Begriff lesbisch sich mittlerweile manchmal etwas eng oder fast schon so ein bisschen wie eine Fremdzuschreibung anfühlt in manchen Momenten. Ich erlebe und empfinde mich zunehmend als queere Person. Mit dieser Identifikation kann ich persönliche, gesellschaftliche und politische Überzeugungen besser miteinander verbinden. Ich vermute, das könnte vielen Menschen ähnlich ergehen. Also ich merke, dass die Schublade lesbisch ja auch nicht ganz frei ist von einem binären Geschlechterbild, es werden da ja auch teilweise körperliche Voraussetzungen mitkonstruiert, also das Konstrukt lesbisch geht eben einfach auf frühere Bilder von sexueller Orientierung zurück, und heute werden die Dimensionen sexueller Praxen, die Dimensionen geschlechtlicher Identität, romantischer Zugewandtheit, sexueller Begehrensweisen ja vieldimensionaler gesehen und das kann in dem Begriff lesbisch so nicht mehr gut eingelöst werden. Und insofern gehe ich mittlerweile etwas mehr in Distanz zu diesem Begriff und fühle mich mit dem Queersein aufgehobener, da ist mehr Bewegungsfreiheit drin. Für mich ist da mehr Offenheit, mehr Perspektive und eben die politische Dimension auch mehr drin. Aber: Im Moment gehe ich erstmal mit beiden Begriffen weiter durch mein Leben und beobachte und erkunde das weiter.“

Simone Kamin, *1974, Interview 2022

„Für die 90er Jahre war das unkompliziert“

Oliver Ehrhardt

„Ich bin tatsächlich von meiner Mutter gefragt worden. Und es ist so, wenn man mich fragt, kriegt man immer ´ne ehrliche Antwort. Das war schon immer so, und der hab‘ ich das gesagt, und die war da relativ cool mit. Väter haben immer mehr Probleme, der hat länger gebraucht. Und das war damals, als ich mit meinem allerersten Freund zusammen war. Pünktlich mit achtzehn Führerschein, und dann fährt man los und fährt in die Discos nach Hannover. Und dort hab‘ ich ihn kennengelernt. Also für die neunziger Jahre war das unkompliziert. Es hat sich wirklich hingeruckelt, ich kann da keine Katastrophen erzählen, also aus dem familiären Bereich. Ich hab‘ auch keine Freunde verloren oder sowas.“

Oliver Ehrhardt, *1976, Interview 2022

„Ich konnte da nicht darüber sprechen“

H.

„Ich komme ja auch aus einer Zeit, wo es kein Internet gab und nur Fernsehen, Erstes, Zweites, Drittes, und Tageszeitung und Bücherei. Und das war erstmal allgemein kein Thema, weder in den Medien noch sonst irgendwie, und es war dann eben auch für mich… Ich hab mich erstmal sonderbar gefühlt. Und für mich war klar, das erzähl‘ ich einfach niemandem, im Alter von vierzehn oder so. Ich war damals auch über Jahre lang in einen Klassenkameraden verliebt, mit dem ich auch sehr eng befreundet war, mit dem ich auch zusammen das Abitur geschafft habe, aber das war einfach… ich konnte da gar nicht drüber sprechen, es war ganz furchtbar. Ich war auch in der Stadtbücherei, hab mir dann so Coming-out-Bücher ausgeliehen, hab‘ ich halt gelesen und hab‘ sie wieder zurückgebracht. Aber ich hatte nach wie vor – ich komme ja aus …, aus einer kleinen Stadt, fünfzigtausend Einwohner – ich wusste nicht, wo ich hingehen könnte, was ich machen könnte. Es gab ja auch keine Plakate in der Stadt, wo das irgendwie aushing, für schwule Jungs, kommt mal vorbei oder so. Und dann, beim Zivildienst, mein Vorgänger, der hat mir dann irgendwann nach Woche zwei erzählt, dass er schwul ist, und es gibt so ‘ne Schwulengruppe in der Aidshilfe, da bin ich völlig zufällig drüber gestolpert letztendlich.“

H., *1979, Interview 2022

„Ich wusste schon lange, dass ich trans bin“

Noah Schlechtweg

„Das mit dem Dorf ist spannend. Ich bin tatsächlich auf dem Dorf nicht überall geoutet. Also ich habe quasi ein Doppelleben, das ist irgendwie versehentlich gestartet. Da ich schon sehr lange wusste, dass ich trans bin, aber mich halt nie getraut habe, mich irgendwo zu outen, auch nicht bei meiner Familie. Dann bin ich nach Göttingen gekommen, dann habe ich irgendwann mal einen Flyer gefunden von der Queeren Jugendgruppe, und dann bin ich da aufgelaufen und habe den Tag beschlossen: okay, jetzt oute ich mich. Bei einer Freundin von mir aus der Jugendgruppe habe ich mich, eine halbe Stunde bevor wir dort hingegangen sind, auf dem Bürgersteig geoutet. Hab‘ dann in der Jugendgruppe mich auch direkt mit meinem richtigen Namen und meinen Pronomen vorgestellt. Hab‘ das dann quasi das erste Mal ausprobiert. Aber da war ich schon 18 Jahre alt. Dass ich trans bin, wusste ich eigentlich schon seit ich so 15, 16 war. Und dann habe ich so ein halbes Jahr in der Jugendgruppe so Kraft gesammelt, auch einfach andere Transmenschen kennengelernt. Und dann, nach so einem halben Jahr etwa habe ich mich bei meiner Familie geoutet. Die hat das auch generell positiv aufgenommen. Also es gab ein bisschen Schengeleien. Mein Vater hat das erst gar nicht verstanden und hatte ganz viel Angst um mich und gedacht, dass jetzt mein Leben ruiniert ist. Ist es nicht. Mein Leben ist völlig in Ordnung.“

Noah Schlechtweg, *2000, Interview 2022

Welche Erfahrungen habe ich mit Akzeptanz und Diskriminierung?

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Queere Bewegungen haben Gesellschaft verändert. Ihnen ist es zu verdanken, dass sich die Chancen für ein Leben ohne Diskriminierung über die Jahrzehnte verbessert haben. Heute können bereits viele queere Menschen selbstbestimmt und öffentlich mit Sexualität und Geschlechtsidentität umgehen.

Deutlich wird aber auch, dass es noch viel zu tun gibt. Erfahrungen von Abwehr und Ausgrenzung können sich überall im Alltag zeigen – beispielsweise in der Uni, in Klassenräumen und auf Partys –, überschneiden sich mit Prekarisierung und Rassismus und verändern sich im Zeitverlauf. Für Respekt und Gleichstellung muss weiter gekämpft werden.

„Ich bin hier ja im Dorf, wohne immer noch hier, bin voll angenommen. Die wissen alle, dass ich die ganze Zeit Freunde habe. Bin eigentlich hier auch in vielen Ämtern. Ich bin im Kirchenvorstand zum Beispiel. Ich mache eigentlich alles mit, was das Dorfleben auch so mit sich bringt. Hab eigentlich auch nie irgendwie was Feindliches hier erfahren im Ort.“

Hermann Miotke, *1950, Interview 2022

„Trans*-Sichtbarkeit im Alltag“

Liv Teichmann

„Dieser Aspekt, der mir für mein Engagement wichtig war, das ist dieser aufklärerische Aspekt. Ich hab‘ viel zu wenig über trans*-Sein gewusst. Das eine ist ja trans*-Sichtbarkeit konkret im Alltag auf der Straße. Das andere ist die Sichtbarkeit in den Medien oder auch zum Beispiel in der Bildung, in allen Bildungseinrichtungen: Schulen, aber auch darüber hinaus, auch außerschulische Bildung. Deswegen war für mich die Beratungsausbildung wichtig, nicht nur für persönliche Beratung, also für Personen, die sich fragen: ‚Bin ich trans* oder nicht?‘ Sondern auch Beratung für die verschiedenen Umfelder, die wir ja alle haben, wie zum Beispiel, was am Arbeitsplatz, an Bildungseinrichtungen, im Gesundheitswesen los ist. Dass alle Menschen, die in sozialen Berufen sind, wissen: Was ist eigentlich trans* und was sind die verschiedenen Bedarfe von trans*-Personen usw.? Also die Arbeit, die zum Beispiel SCHLAU macht. Für mich wäre das total hilfreich gewesen, als ich noch zur Schule gegangen bin. Dass ich einfach gewusst hätte: ‚Mich gibt’s wirklich.‘ Und das ist das, was über einen ganz langen Zeitraum gefehlt hat und was mich optimistisch stimmt, dass sich das jetzt langsam ändert.“

Liv Teichmann, *1964, Interview 2022

„Wir können uns nicht entspannt zurücklehnen“

Liv Teichmann

„Und da wünsche ich mir wirklich eine gesellschaftliche Veränderung, dass die cis-hetero geprägte Mehrheitsgesellschaft kapiert, ja, wir sind ein Thema, wir gehören dazu. Dass die einfach merken, es ist nicht dauernd Thema, es ist nicht lästig, sondern ihr habt uns damit belästigt, jahrzehntelang, jahrhundertelang, dadurch, dass ihr es ausgeblendet habt und nicht umgekehrt. Wir machen einmal im Jahr einen CSD und nicht jede Woche. Nur weil es drei Filme übers Jahr gibt und es einmal im Quartal etwas in der Zeitung zu lesen gibt, ist es nicht andauernd Thema. Es ist überhaupt Thema. Denn ihr könnt es euch nicht mehr leisten, uns komplett zu verschweigen. Das ist der Unterschied! Und das wünsche ich mir, dass da einerseits in der trans* Community das Bewusstsein da ist, nein, wir müssen uns nicht verstecken, es ist nicht alles klar, nur weil ich jetzt, ohne verprügelt zu werden, als sichtbare trans* Person auf die Straße gehen kann. Noch nicht mal immer und auch nicht immer überall. Also für mich gibt’s auch nach wie vor No-Go-Areas, und die Liste der möglichen Reiseländer ist für mich deutlich zusammengeschrumpft seit meinem Coming-out. Damit, dass es jetzt überhaupt möglich ist, dass es in Göttingen ein Queeres Zentrum und eine Trans*Beratung gibt, das ist der Anfang. Wir können uns nicht entspannt zurücklehnen und es ist alles klar. Es ist nicht fertig, wir sind am Anfang!“

Liv Teichmann, *1964, Interview 2022

„MeToo und sexualisierte Gewalt“

Karen Nolte

„Ja, ich glaub‘ halt, dass viele Themen, die heute aktuell sind, mit MeToo und sexualisierter Gewalt es schon immer waren. Ich finde das so interessant, wenn junge Frauen sagen, das ist das Thema unserer Zeit. Das hab‘ ich neulich gehört, das ist ja das Thema unserer Zeit, wurde ja früher irgendwie gar nicht thematisiert. Dann denke ich irgendwie, o.k. haha! Also als ich studiert habe, da war das ein großes Thema. Nur der Unterschied war, dass es niemand ernst genommen hat. Also heute ist das ja so, dass es manche immer noch nicht ernst nehmen, aber insgesamt kann man sagen, dass es gesamtgesellschaftlich schon akzeptierter ist, als Problem. Ja und damals waren es die verbissenen Emanzen, die sowas thematisiert haben, und man musste sich auch allerhand anhören, wenn man diese Themen aufgebracht hat, und es gab natürlich auch an der Uni überhaupt keine Sensibilität für sexualisierte Gewalt oder für sexuelle Belästigung. Also es gab Professoren, die konnten über Jahre Studentinnen sexuell belästigen und denen ist nichts passiert, weil das einfach keiner ernst genommen hat. Ich finde es ja schön, dass es heute so durch Social Media sichtbarer geworden ist. Mich wundert es immer so ein bisschen, wenn manche Aktivist*innen glauben, dass das etwas Neues sei oder das sie die Ersten sind, die sozusagen sexualisierte Gewalt thematisieren. Aber das ist nicht so, leider. Wenn man sich überlegt, dass ich zu Beginn der 90er angefangen habe zu studieren und da war das eigentlich, also in der feministischen Frauenbewegung, war das schon ein großes Thema. Nur eben gesamtgesellschaftlich wurde das überhaupt nicht ernst genommen. Und wenn man sich überlegt, wie lange das jetzt gedauert hat.“

Karen Nolte, *1967, Interview 2022

„Queer-Sein ist nicht peinlich“

Johanna Kaul

„Ich habe zum Glück nie nennenswert Negatives erlebt, nicht direkt jedenfalls oder so, dass ich dachte ‚ja die sind nett, aber hinter meinem Rücken finden sie das alles blöd und reden über mich‘. Aber ich glaube auch immer, dass wenn man nicht ausstrahlt, etwas zu verheimlichen oder den Eindruck erweckt, einem selbst sei die queere Identität peinlich, dass man einfach nicht so viel Vorlage gibt, um blöd behandelt zu werden.“

Johanna Kaul, *1971, Interview 2020

„Weiter mit Druck und Kontinuität“

Simone Kamin

„Das Transsexuellengesetz muss abgeschafft werden. Das Selbstbestimmungsgesetz muss stattdessen eingeführt werden. Die gesetzliche Rahmung, dass intergeschlechtlich geborene Kinder nicht operiert werden, muss mit genug Rückhalt durchgesetzt werden. Da darf es keine Schlupflöcher geben. All diese Dinge sind weiterhin Streitpunkt und müssen weiter erkämpft werden. Da muss noch ganz viel weiter mit Druck und Kontinuität weitergegangen werden. Und selbstverständlich: Trans*-Elternschaft ist weiterhin ein Thema, Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Eltern ist weiterhin nicht in völlige Gleichstellung bislang umgesetzt. Viele, viele Themen sind noch nicht ausreichend behandelt und gesetzgeberisch nicht auf einem guten Stand der Dinge, und das alles müssen wir weiter tun. Und dem möchte ich weiter meinen Beitrag leisten.“

Simone Kamin, *1974, Interview 2022

„Ganz selbstverständlich mit HIV leben“

Simone Kamin

„Meiner Meinung nach wird der Begriff schwul vor allem in jüngeren Generationen immer noch benutzt, um Menschen zu beleidigen oder zu provozieren. Die Verbindung mit HIV und Aids, also dass schwule Männer als Hauptbetroffenen-Gruppe diffamiert werden, hat jedoch abgenommen über die letzten Jahrzehnte. Das liegt meiner Einschätzung nach unter anderem daran, dass mit den immer weiter zurückgehenden Neuinfektionen das Thema HIV/Aids – zu Recht – an Dramatik verloren hat. Menschen mit HIV können heute mit wirksamer und möglichst frühzeitiger Therapie genauso gut und lange leben wie Menschen ohne HIV. Dass Menschen ganz selbstverständlich mit HIV leben können, dass sie Sex haben können, dass sie gesunde Kinder bekommen können und ihnen jeder Beruf offen steht, verbreitet sich als allgemeiner Wissensstand in der Bevölkerung eben immer mehr. Damit baut sich dann insgesamt endlich auch das Stigma weiter ab, und der nach und nach geöffnete dunkle Vorhang, der sich seit den frühen 1980er Jahren über das Thema HIV/Aids gelegt hat, verschwindet hoffentlich bald auch ganz.“

Simone Kamin, *1974, Interview 2022

„Dumme Sprüche unter der Dusche“

Oliver Ehrhardt

„Man hörte sich schon immer mal so ein paar dumme Sprüche unter der Dusche an, so nach dem Motto, oooh Hilfe! immer mit dem Arsch an der Wand lang. Kam auch, und dann ist die klassische Antwort: Hast du ´n Spiegel? Guck dich an, mit dir würde ich nicht mal was anfangen, wenn du der letzte Mann auf der Welt bist. Man muss kontern können. Man muss das genauso zurückgeben, und das können viele nicht. Weil sie sich dann angegriffen fühlen. Das kenne ich auch, aber ich bin so ´ne Person, ich lass mich eher selten unterkriegen.“

Oliver Ehrhardt, *1976, Interview 2022

„Auch wenn Queers viele Erfolge zu verzeichnen haben, werden sie immer noch bedroht“

Chriz Klapeer

„Und auch zu meiner Zeit an der Uni Göttingen gab es immer wieder trans*- und queerfeindliche bzw. rechtsextreme, rassistische und antisemitische Schmierereien an Uni-Gebäuden. Dabei wurden auch Drohungen gegen Angehörige und Mitglieder sowie einzelne (vor allem genderbezogene) Einrichtungen der Universität ausgesprochen. Was ich damit sagen will: Trotz des enormen Erfolgs und der Sichtbarkeit queerer Bewegungen in Göttingen sowie der vielen queeren Denkräume, die an der Uni und darüber hinaus geschaffen wurden, war und ist auch hier vieles noch immer und wieder bedroht, und damit eben prekär. Und ich denke, es ist wichtig, sich klar zu machen, dass solche Angriffe nicht einfach Schmierereien von Spinnern sind, sondern Angriffe auf die Demokratie; denn gerade im Kontext antifeministischer und rechtsextremer Mobilisierungen ‚gegen die Gender Studies‘ soll die Verhandlung von Geschlechter- und Sexualitätsnormen ja dem demokratischen Prozess entzogen werden. Da wird so getan, als ob Queer-, Trans*- oder Inter*-Feindlichkeit ebenso wie Antifeminismus einfach ‚legitime‘ Meinungen im Rahmen der demokratischen Meinungsfreiheit seien. Dass sich mittlerweile auch Feminist*innen und Linke an solchen Diskursen beteiligen und sich eines rechtsextremen Vokabulars (z.B. Cancel Culture etc.) bedienen, um Trans*Feindlichkeit zu legitimieren, halte ich auch demokratiepolitisch für sehr bedenklich.“

Chriz Klapeer, *1979, Begleitband zur Ausstellung 2022

„Ich habe mich als queere Person nicht sicher gefühlt“

Noah Schlechtweg

´„Da hab‘ ich dann auch realisiert, so, das war halt so ein halbes Jahr und da habe ich realisiert, dass es in dieser Klasse in dieser Situation gar keine Unterstützung von den Lehrenden gab, sondern sogar aktives, ‚ja hier warum sagst du solche Sachen, kannst du nicht einfach ‚normal‘ sein´. Ab da habe ich mich, was queere Sachen angeht, in dieser Schule nicht mehr sicher gefühlt. Vor allem, weil es mir dann ja in leichterer Form auch selber passiert ist. Ich habe tatsächlich, ohne irgendwie out zu sein, schon vorher – ich hatte halt lange kurze Haare, einfach weil ich kurze Haare praktisch fand – und ich wurde zum Beispiel mal, als ich als Frau in ein Frauen-Badezimmer gegangen bin, angegriffen, weil ich für einen Mann gehalten wurde, weil ich irgendwelche kurzen Haare hatte. Das sogar in einer Woche mehrfach, also da war ich campen, und da gab es ja ein öffentliches Klo, und das ist mir mehrfach passiert innerhalb dieser Woche.“

Noah Schlechtweg, *2000, Interview 2022

„Hattest du schon ‚die OP’?“

Noah Schlechtweg

„Es ist halt extrem unangenehm, wenn man auf eine Party geht und dann kommen Leute auf der Party auf dich zu und fragen: ‚Hattest du schon ‚die OP‘?‘ Und ich denke mir halt, ich habe jetzt keine Zeit für so einen trans 1 o 1 Crashkurs. Ich will einfach nur mein Bier trinken und Musik hören, bitte. Also das sorgt nicht für Unsicherheit. Aber das ist einfach so. Öffentlich trans zu sein heißt, dass man ein Stück irgendwie auch öffentliches Gut ist. Leute fühlen sich dann gerechtfertigt, einen anzusprechen und so und irgendwie super unangenehme Fragen zu stellen, weil man ist ja öffentlich trans, also muss man damit auch rechnen.“

Noah Schlechtweg, *2000, Interview 2022

„Welche Toilette kann ich benutzen?“

Noah Schlechtweg

„Die Uni hat auch mehr als genug Toiletten. Da könnte man einfach ein Schild abschrauben und dann hätte man eine geschlechtsneutrale Toilette. Die meisten öffentlichen Gebäude haben das. Es ist ja im Prinzip schon alles da. Und ich sehe das Bedürfnis nach Rückzugsräumen, gerade bei Frauen, aber das gilt ja für Transfrauen genauso. Die geschlechtsneutrale Toilette ist die beste Möglichkeit abzuschätzen, wo kann ich hingehen, wo kann ich jetzt auf Klo gehen. Ich muss ja jedes Mal, wenn ich irgendwohin gehe, überlegen und ich persönlich gehe dann in der Öffentlichkeit gar nicht auf Toilette. Oder ich benutze halt das Behindertenklo, die auch meistens geschlechtsneutral sind. Das ist ja alles schon da. Ich verstehe den Widerstand nicht. Es dürften ja alle diese Toiletten benutzen, auch für nicht binäre Menschen, also Menschen die weder Männer noch Frauen sind. Die müssen sich ja immer öffentlich für etwas entscheiden, was überhaupt nicht stimmt und sie werden dann ja auch gesehen in dieser Entscheidung, aber müssen trotzdem eine treffen, einfach weil sie ein menschliches Grundbedürfnis haben. Ich finde, die sollten einfach ein paar Schilder abschrauben und fertig.“

Noah Schlechtweg, *2000, Interview 2022

„Warum ist es so schwierig, den Namen im Uni-System zu ändern?“

Noah Schlechtweg

„Viel schlimmer finde ich, dass es wirklich nicht möglich ist, den Namen im Unisystem zu ändern, ohne die gesetzliche Änderung zu haben. Das Verfahren ist so langwierig und es braucht mehrere Gutachten, es ist teuer und man muss es selber bezahlen. Die Uni lässt halt nicht zu, dass man auf Plattformen wie E-Campus, Stud-IP, die E-Mail-Adresse oder dass man irgendetwas davon ändert ohne diesen legalen Schein. Das finde ich total stressig, weil ich mich jetzt jedes Mal mit meiner alten E-Mail-Adresse melden und outen muss und alle wissen meinen alten Namen. Das wäre IT-mäßig gar kein Problem. Sobald man den Schein hat, geht es auch ganz schnell. Meine Prüfungsleistungen und so mache ich alles auf den alten Namen, aber meine Bachelorarbeit darf ich dann auf meinem richtigen Namen abgeben. Ich darf ihn nur nicht im System ändern lassen. Es ist also eigentlich gar nicht so schwierig. Das ist so ein Stressfaktor, der eigentlich ganz leicht zu vermeiden wäre.“

Noah Schlechtweg, *2000, Interview 2022

Wie lebt es sich in Göttingen?

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Die Stadt, die Wissen schafft! – Als Universitätsstadt ist Göttingen ein besonderer Ort für queeres Leben. Viele junge und progressive Initiativen prägen das Stadtbild und das städtische Klima. Engagierte linke und links-queerfeministische Strömungen kämpfen weiter für autonome und selbstverwaltete Räume sowie für gesellschaftliche Freiheit, Selbstbestimmung und Antifaschismus.

Gleichzeitig ist die Akademie Göttingen ein Durchlauferhitzer. Ebenso viele Menschen, die nach Göttingen kommen, gehen auch wieder. Gerade kleine Gruppen haben und hatten es dadurch schwer, für längere Zeit fortzubestehen.

„Du erzählst ja laufend, dass du hetero bist“

Klaus Müller

Schwulsein ist nicht das gleiche wie Heterosein, man erfährt das auch indirekt. Viele Heteros sehen es auch nicht ein, die sagen ‚Ja, warum musst du denn erzählen, dass du schwul bist?‘ Das ist natürlich auch wichtig für das Coming-out, das rauszulassen. Und ich sage: ‚Du erzählst ja laufend, dass du hetero bist.‘ Und die merken es aber gar nicht, dass die Leute erzählen, dass sie hetero sind. Solche Punkte, wie ich persönlich damit umgegangen bin. Und ich habe mir, glaube ich, im Laufe der Jahre, immer mehr Freiheiten erarbeitet. Ich fand es auch irgendwann total wichtig, dass das ganze Dorf wusste, dass ich schwul bin.

Klaus Müller, *1952, Interview 2022

„Das Clochard war die tollste Disco der Welt“

P.

„Aber was ich noch sagen wollte, was auch ganz wichtig war und wo wir uns regelmäßig getroffen haben, sowohl Schwule als auch Lesben: Abends zum Ausgehen im damaligen, war das Clochard, das gibt es ja leider nicht mehr, das war für mich damals die tollste Diskothek der Welt, das ist ja leider alles abgerissen worden. Das war ein alter Tanzsaal aus der Kaiserzeit. Diese Abrissbirnenpolitik in Göttingen ist ja auch fürchterlich. Also wenn es das noch geben würde… Ich war da fast ein Jahr lang jeden Abend zum Tanzen. Die LGBTQler hatten da eine kleine Ecke für sich. Also ich habe da nicht viel studiert, ehrlich gesagt. Da haben wir uns auch noch getroffen, da war auch tolle Musik – New Wave, Punk, Funk, Soul – viel Patti Smith, Police, The Stranglers, Lene Lovitch, The Cure… usw.“

P., *1959, Interview 2022

„Lesben habe ich zum Beispiel oft privat getroffen, die wohnten auch immer in den Wohngemeinschaften, wo die anderen Schwulen lebten. Und dann sind wir zusammen auch immer zum Stonewall Day nach Hamburg gefahren. Also wenn wir dann nicht in Göttingen demonstrieren waren. In Göttingen ging ich einmal auf eine Rote Armee Fraktion Supporter-Demo, würde man heute sagen. Da bin ich dann oft fotografiert worden. Auf jeden Fall gab es auch diese Hausbesetzer-Demos und so weiter. Das gab es ja alles in Göttingen. Aber für Schwule und Lesben gab es dort eigentlich keine Demos. Da musste man / frau schon weiter wegfahren. Und wir sind nicht nach Kassel oder Frankfurt gefahren, sondern Göttingen hat sich da immer nach Norden orientiert. Dann sind wir einmal im Jahr nach Hamburg gefahren. Und haben uns dann alle wieder getroffen zum sog. Stonewall Day.“

P., *1959, Interview 2022

„Göttingen als kleines Berlin“

Regina Meyer

„Göttingen war immer so ein kleines Berlin, obwohl Göttingen ja nie groß war. Diese 100.000er Marke zur Großstadt war ja gerade mal übersprungen gewesen, aber das hab‘ ich wahrgenommen, als ich nach Göttingen kam. Ich kannte nicht viele große Städte. Ich hab‘ das wahrgenommen als eine sehr präsente Subkultur, oder soziale Bewegungskultur, und das hat mir noch mehr verholfen, mich zu entscheiden für Göttingen, weil hier der norddeutsche offene Charakter mir entgegen geschlagen ist. Und so bin ich erst mal nach Göttingen gekommen. Studium, Uni-Blase würde man heute sagen, den Begriff gab es früher noch nicht – alles war viel, weil 60er-Jahrgang, das waren immer Babyboomer-Jahrgänge. Das hat man damals auch nicht so begriffen – aber überall, wo wir waren, waren wir viele. Also volle Hörsäle, volle Seminare, volle Mensa, alles voll, voll, voll. Also – das Hauptmensagebäude auf dem Hauptcampus, da waren immer Büchertische, und von den Wänden hingen Riesenplakate herunter. Das waren nicht nur die Kinoankündigungen, sondern ganz viel auch Linksgruppen, marxistische Gruppen… Im Hauptmensagebäude war deren Versammlungsraum, wie ein offener Marktplatz. Da standen Büchertische, und da war auch ein Lesbenbüchertisch, mit so einem lila Vorhängelchen, zwei Frauen-Symbole ineinander gehäkelt und irgendwelche Lesbenromane, Lesbentheorie, Kampfliteratur. Das war so mein erster Anlaufort, bei dem ich gesagt habe, das ist nicht nur soziale Bewegung, da ist auch das, was ich will, lesbisches Leben kennenlernen!“

Regina Meyer, *1962, Interview 2022

„Göttingen als Durchlauferhitzer“

Regina Meyer

„Aber es war ja auch nicht so, dass ich mich direkt in Göttingen sofort in so einer Szene wiedergefunden habe, das hat ja auch eine Weile gedauert. Ich kann nicht mehr beziffern, wann das war, aber ein oder zwei Jahre dürfte es sicher auch gedauert haben, bis ich da mal das Gefühl hatte, da reinzukommen. Eine Zugehörigkeit habe ich erst viel später gehabt. Ja, und wer ist übrig? Also… Eine Handvoll. Eine Handvoll, weil Göttingen Durchlauferhitzer ist, Göttingen ist durch dieses studentische Milieu eine ganz starke Durchlaufstadt. Die Menschen kommen, studieren, und einige bleiben, wie ich, und viele, die meisten, gehen ja wieder, auch der Arbeit wegen. Die, die noch in Göttingen sind, sind eine Handvoll Menschen, vielleicht 10, mit denen ich Kontakt habe. Dann gibt es noch ein paar, die in anderen Städten leben, wo der Kontakt aber auch nicht mehr so aktiv ist.“

Regina Meyer, *1962, Interview 2022

„Verhältnis zur linken Szene“

Liv Teichmann

„Und was noch wichtig ist: Es gab keine Unterstützung, keine Ermunterung aus der überwiegend cis-heteronormativ geprägten Bewegung. Egal welche Gruppe! Egal ob aus der revisionistischen Ecke kommend, oder irgendwelche explizit linksradikalen Gruppen, egal ob sie eher marxistisch oder libertär waren. Es gab Gruppen, die feministische Themen unterstützt haben, aber halt lesbische Themen oder schwule Themen oder trans*-Themen nicht, das kam einfach nicht vor! Also so was wie: ‚Mit unserer Unterstützung könnt ihr auf jeden Fall rechnen.‘ Sowas nicht. Es gab auch keine queere Sichtbarkeit in der ersten oder in der zweiten Reihe auf Demos oder am Mikro oder auf dem Podium.“

Liv Teichmann, *1964, Interview 2022

Was bedeutet für mich die Queere Szene/ Community?

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Menschen im LSBTIAQ*-Spektrum suchen Gemeinschaft und Räume, in denen sie sich ohne Anpassungs- und Rechtfertigungsdruck sicher fühlen und entfalten können. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und die Erfahrung von Zusammenhalt und Solidarität sind umso bedeutsamer, je mehr eine Person bzw. eine Community-Gruppe im Alltag von der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft diskriminiert, ausgegrenzt oder bedroht wird.

Viele Menschen fühlen sich einer breiten queeren Community zugehörig, bewegen sich teilweise aber in spezifischen, unterschiedlichen Sphären. Häufig verbinden sich Personen über gemeinsame Themen und Freizeitinteressen. Zahlreiche Menschen suchen eher Rückzugsorte, die einer geschlossenen Gruppe vorbehalten sind, um sich vor Ausgrenzung oder Diskriminierung auch innerhalb der breiten queeren Community zu schützen.

„Da bin ich da mit großem Herzklopfen hin“

Klaus Müller

„Für mich war das Engagement in der HAG der zentrale Coming-out-Schritt. Ich weiß sogar noch das Datum: Das war der 15. März 1980. Da bin ich da mit großem Herzklopfen hin, das war im Nikolausberger Weg 17 in der dritten oder der zweiten Etage, und bin da wirklich total ängstlich hoch und habe bei der ersten Gruppensitzung, glaube ich, überhaupt nichts gesagt. Habe mich dann aber relativ schnell in die Gruppe integriert und wurde bald eines der führenden Mitglieder.“

Klaus Müller, *1952, Interview 2022

„Café Chaos im besetzten Haus“

Klaus Müller

„Wir waren damals anscheinend recht gut in der linken Szene etabliert (während es kaum Berührungspunkte zum bürgerlichen Polit-Betrieb gab). Die Solidarität von der Szene war jedoch ein bisschen aufgesetzt: In Göttingen wurden Anfang der 80er Jahre lauter Häuser besetzt – es war diese Besetzungszeit – und unter anderem auch die ehemalige Prager Schule in der Jüdenstraße. Aus Solidarität haben dort viele Leute übernachtet, und man konnte auch einen Abend im dort eingerichteten Café gestalten. Und die Schwulengruppe hat gesagt: ‚Na gut, wir solidarisieren uns, wir machen einen Thekenabend.‘ Wenn die Schwulengruppe Theke macht, was machte man? Man trat natürlich im Fummel auf. Zusätzlich kreischte man natürlich da herum. Für einige Heteros war das ein bisschen viel, auf jeden Fall ist angeblich ein Aschenbecher geflogen, und es gab Schmährufe und so weiter. Daraufhin haben wir darüber gleich ein Flugblatt geschrieben. Dann waren die Heteros ganz betroffen: ‚Ach Gott, wir?‘“

Klaus Müller, *1952, Gesprächsrunde vor Queerer Jugendgruppe 2020

„Zu meiner Zeit gab es eigentlich nur eine Kneipe, das war das Big Apple. Das war echt eine tolle Kneipe. Wenn sie die nicht renoviert hätten, dann wäre das heute unter Denkmalschutz gestellt worden. So eine richtige 60er Jahre Deko hatten die in der Reinhäuser Landstraße. Schräg gegenüber vom Neuen Rathaus. Wenn man reinkam, war links der Barbetrieb und rechts war eine Tanzfläche. Die hatten eine richtige Popart Deko in Rot, Orange und Grün, wie in den 60ern. Ganz toll eigentlich. Und dann haben die renoviert und alles holzgetäfelt, ganz furchtbar. Diese holzgetäfelten Sachen, die kamen in den 70er Jahren in den Schwulenkneipen auf. Das nannte man Tuntenbarock, das war ganz fürchterlich. Das sah aus wie Omas Wohnzimmer. Aber dieses Big Apple unterschied sich da so angenehm. Die hatten ja auch eine Tanzfläche, das war eigentlich ganz toll. Da haben wir uns sehr wohl gefühlt. Da gingen ja auch Schwule und Lesben hin. Das war da gemischt. Obwohl es in Göttingen damals auch Frauenkneipen gab, also im Gegensatz zu den Schwulen hatten die Frauen eine richtige Infrastruktur. Ein Frauenbuchladen, Frauenkneipen und so, aber nicht explizit lesbisch. Deswegen gingen die Lesben ins Apple. Das Big Apple hatte einen Dark Room eingerichtet. Der war ja eine Lachnummer. Man kannte sich ja sowieso von den Schwulen her. Wen sollte man dann noch kennenlernen? Männer, die man sowieso schon zehn Mal getroffen hatte. Also das war sowieso Quatsch. Als ich nach Göttingen kam, hatte das Big Apple gerade erst aufgemacht. Da gab es vorher überhaupt nichts. Da einzige Schwulenkneipe, das Gambrinus, hatte ein Jahr vorher geschlossen. Da haben die Schwulen in Göttingen die Schwulengruppe praktisch überrannt. Es gab ja nichts, wo man sich treffen konnte. Nur die öffentlichen Toiletten, die Klappen. Vor allem die am Jacobi-Kirchhof und natürlich am Ernst-Honig-Wall, das outside-cruising. In der Schwulengruppe gab es daraufhin Konflikte, weil den sogenannten bürgerlichen Schwulen oder sogenannten Subtrinen vorgeworfen wurde, sie seien ja nur da, um Männer kennenzulernen. Denen ginge es ja gar nicht um den politischen Anspruch.“

P., *1959, Interview 2022

„Wir waren die politisch engagierten Lesben“

Regina Meyer

„Der andere Ort, der quasi auch ein öffentlicher war, war der LAURA Frauen- und Kinderbuchladen, in dem ich von ’88 bis ’96 gearbeitet habe. Da musste man sich nicht mehr verstecken, das war also eine offene Gesellschaft, eine offene Stadtgesellschaft, die zwar in einer Nische stattfand, das war schon. […] Wir waren nicht gegen das Establishment, wir waren ja quasi in einer von uns selbst geschaffenen Runde, also schon eine Art von Nischengesellschaft. Da bin ich dann irgendwann rausgegangen, aber das sind dann die Neunziger und das neue Jahrtausend. Der Hauptunterschied, ja, wenn ich wüsste, wie ihr euch jetzt so richtig organisiert, ich glaube, das Analoge ist der Hauptunterschied, dass es halt Telefonlisten gab, und ich glaube, der Hauptunterschied ist auch, der ist zwar nicht lustig, aber [doch für mich politisch wichtig] wir waren extremst, jedenfalls die politisch engagierten Lesben, waren extremst mit der Linken verbunden, mit dem Juzi und mit, ja, wirklich politischen Bewegungen, Umwelt, Frieden, Anti-Pershing, also all das. Was eigentlich der Hintergrund war, ich kam aus einer Jugendzentrums-Bewegung und bin dann in diese FrauenLesben-Bewegung quasi organisch reingerutscht.“

Regina Meyer, *1962, Gesprächsrunde Queere Jugendgruppe 2020

„Die 70er, 80er und 90er, und, ich glaube auch Schwerpunkt auf den 80ern, waren in Göttingen Hochzeiten für lesbische Bewegungen. Dazu muss ich sagen, wir hatten ja nicht den queeren Gedanken damals, es war lesbisch, aber es war schon auch nicht nur lesbisch. Asexuell war ein Thema, Bisexuell war ein Thema und Klasse waren Themen. Also Herkünfte, Klassen. Migration weniger, aber auch. Wir hatten auch Migrantinnen, das war aber damals noch nicht so theoretisch aufgeladen, das war einfach so.“

Regina Meyer, *1962, Interview 2022

„Es gab eine größere Lebensfreude und mehr Herzlichkeit“

Johanna Kaul,

„In den 90ern und 2000ern gab es Partys in der Musa, die hießen manDance. Da waren mehrere hundert Leute, also wirklich so 400 bis 600 Leute. Die sind angereist aus Kassel und Braunschweig, und das waren einfach mega tolle Partys. Ich glaube, man bekommt heute gar nicht mehr dieselbe Menge Menschen auf ein und dieselbe Veranstaltung. Es gab auf jeden Fall größere Partys, regelmäßigere Partys, z.B. einmal im Monat eine Gaynight, diese manDance einmal im Quartal. Da wusstest du schon, dass du dir dieses Wochenende freihalten musst. Außerdem gab‘s in Göttingen auch eine Zeit lang relativ große FrauenLesben-Partys in verschiedenen Räumen z.B. bei Kore, das ist ein FrauenMädchen-Projekt. Die hatten früher große Räume, die man mieten konnte, und das waren auch meine ersten Partys in Göttingen. Das war schon beeindruckend, die ‚großen‘ älteren Lesben mal zu sehen, die da so lässig rumstanden. Es gab dezidiert Partys nur für ‚FrauenLesben‘ oder nur für Schwule, zum Glück aber auch regelmäßige Events für alle! Für mein Gefühl gab es eine größere Lebensfreude und mehr Herzlichkeit, es war mehr ein großes Miteinander. Du konntest mal eben neben den Leuten nett tanzen, konntest andere anlächeln und hast ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt. Mein Gefühl ist, dass heute alles cooler ist. Oder alle geben sich sehr cool und kommen nicht so in Kontakt, gerade der Kontakt zwischen schwulen Männern und lesbischen Frauen war deutlich häufiger. Einfach mehr Verständnis und Spaß daran, den Abend zu teilen. Das, finde ich, ist ein bisschen verloren gegangen über die Jahrzehnte.“

Johanna Kaul, *1971, Interview 2022

„„Queer“ gibt einen Auftrag, sich zu engagieren“

Johanna Kaul

„Also ich finde es ja grundsätzlich nicht okay, wenn man total unpolitisch durchs Leben geht, also egal mit welchem Hintergrund man lebt. Ich glaube, man kann auch gar nicht unpolitisch sein, eigentlich ist fast jede Handlung ja irgendwie politisch. Ich glaube schon, dass wir vielleicht den Auftrag haben, mehr zu gucken, was passiert oder uns für Leute einzusetzen, denen es schlechter geht, im queeren Bereich, aber auch in allen Lebensbereichen, weil man vielleicht auch einen anderen Blick auf die Gesamtlage hat und selbst erfahren hat, was es bedeutet, in einer Minderheit zu leben oder auch als Minderheit betrachtet zu werden. Ich finde den Gedanken der Solidarität extrem wichtig unter Minderheiten oder marginalisierten Gruppen sowie auf die Gesellschaft insgesamt bezogen. Ich finde es schwierig, wenn sich Leute dann so ins Private zurückziehen und sagen ‚Ja, wir sind zwar lesbisch, aber ansonsten leben wir so, wie die Heteronormativität es vorgibt und interessieren uns für nichts‘. Und das finde ich immer sehr schwer auszuhalten, ehrlich gesagt. Ich finde es problematisch, wenn sich Leute aus der politischen Öffentlichkeit rausziehen. Ich finde, queer gibt da schon einen Auftrag, sich zu engagieren. Man muss ja zum Beispiel nur über die Grenzen gucken, wo die queeren People viel bedrohter sind als bei uns. Es reicht ja schon, einen Blick nach Ungarn oder Polen zu werfen. Da fühlt man ja eine Verbindung oder ein Zusammengehörigkeitsgefühl, zumindest geht es mir so.“

Johanna Kaul, *1971, Interview 2022

„Alles, was das queere Herz begehrt“

Simone Kamin

„Die LesBiSchwulen* Kulturtage sind die älteste und längste queere, kulturpolitische Veranstaltungsreihe in Göttingen. Es gibt sie schon seit 1995, und sie haben bisher 24mal stattgefunden. In diesem Jahr 2022 feiern die Kulturtage also ihr 25. Mal. Seit 1998 finden die Kulturtage, mit nur einer coronabedingten Unterbrechung im Jahr 2020, Jahr für Jahr statt und leisten seitdem in Göttingen einen unverzichtbaren Beitrag für die Sichtbarkeit, Akzeptanz und Gleichstellung vielfältiger Lebensweisen, sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten. Die Kulturtage werden großteils ehrenamtlich organisiert und sind eine selbstorganisierte Struktur. Jedes Jahr bieten die Kulturtage ein queer-politisch anspruchsvolles Programm, an dem sich bis zu 20 Gruppen und Einrichtungen als Mitveranstalter*innen oder Unterstützer*innen beteiligen. Seit den 2000er Jahren erstrecken sich die LesBiSchwulen* Kulturtage grundsätzlich über mindestens vier Wochen, mit meist über 30 Veranstaltungen. Damit verleihen sie dem goldenen Göttinger Herbst jedes Jahr einen queeren Glamour und reißen Menschen reihenweise von ihren Sofas. Das bunte kulturpolitische Veranstaltungspaket mit Wohlfühlfaktor ist jedes Jahr randvoll gefüllt mit allem, was das queere Herz begehrt: von aktuellen gesellschafts- und queer-politischen Debatten, über Party-Beats, Leinwandstorys oder schillernde Bühnenauftritte bis hin zu Empowerment in vielerlei Facetten. Immer gibt es viel Raum für Begegnung und Bewegung, für Austausch und Empowerment, für Selbsterfahrung und Solidarität. Das Angebot reicht von Theateraufführungen und Konzerten über Filme, Lesungen, Erzählcafés und Diskussionsveranstaltungen bis hin zu Ausstellungen und vielfältigen Workshop-Formaten. Dabei kommen auch der körperliche Bewegungsdrang und kreative Selbstausdruck nie zu kurz.“

Simone Kamin, *1974, Interview 2022

„Ein Ort für Gemeinschaft und Vernetzung“

Simone Kamin

„Das Queere Zentrum Göttingen, kurz QZG, ist ein Veranstaltungs- und Beratungszentrum, in dem sich schwule, lesbische, bisexuelle, trans*, inter* und andere queere Personen, also auch genderqueere, abinäre Personen, polyamory Personen, begegnen und organisieren. Ein Ort für Gemeinschaft und Vernetzung, für Soziokultur und Bildung sowie für zivilgesellschaftliches Engagement und queere Interessenvertretung. Letztendlich stehen auch da – genau wie bei den LesBiSchwulen* Kulturtagen – das Eintreten für Gleichstellung, für Sichtbarkeit, für Empowerment eben auch ganz stark im Fokus. Wichtige Säulen des Queeren Zentrums sind die kostenlosen und professionellen Angebote der Trans*Beratung, das Jugendprojekt equity mit Angeboten für junge Queers zwischen 14 und 27 Jahren sowie das Netzwerk Trans*Gesundheit, das sich an Menschen richtet, die beruflich mit dem Thema Trans* umgehen und die sich mit mehr Kenntnis und mit mehr Kompetenz besser auf ihre Klient*innen und Ratsuchenden einstellen wollen. Das Netzwerk Trans*Gesundheit widmet sich auf der infrastrukturellen Ebene und der sozialmedizinischen Ebene dahingehend, dass sich Versorgungsstrukturen für trans* Personen, sei es medizinischer Art, sei es im Bereich Beratung, sei es im Bereich sonstiger Sozialarbeit, verbessern, verstetigen, vernetzen können. Wesentlich sind für das Queere Zentrum auch die soziokulturellen Schwerpunkte. Das Queere Zentrum ist Träger der LesBiSchwulen* Kulturtage und des CSD-Aktionsbündnisses Göttingen. Zum regelmäßigen Angebot gehören auch offene Themenabende, Workshops, Quiz- und Thekenabende sowie Veranstaltungsformate zur Vernetzung und zur Gewinnung und Einbindung von ehrenamtlich Aktiven. Der Verein hat mittlerweile eine große Anzahl an aktiven Mitgliedern sowie an Vereinsmitgliedern, da sind wir sehr, sehr erfolgreich in der Akquise, ja, und sehr viele Menschen tragen unsere Aktivitäten ehrenamtlich mit.“

Simone Kamin, *1974, Interview 2022

„Sich als nicht-binäre Person nicht erklären müssen“

Luca Siemens

„Es gibt eine Mailingliste von abinären und nicht-binären Personen, die sich vernetzen und darüber haben wir uns mit ein paar Menschen zusammengefunden und gesagt, es sei doch mal eine nette Idee, wenn man sich nicht nur über E-Mail sehe, sondern wenn wir irgendwie mal ein Wochenende veranstalteten. Schließlich haben wir dann 2017 das erste Empowerment-Wochenende veranstaltet, blankspace hieß es. Es war aus der Community für die Community und es ging darum, wie der Name Empowerment-Wochenende schon sagt, ein Wochenende mal sich als nicht-binäre Person nicht erklären zu müssen, sich keine Gedanken darüber machen zu müssen, wenn ich das und das anziehe, wie werde ich gelesen; wie gehe ich damit um, wenn mich jemand missgendert; wie gehe ich damit um, wenn ich irgendwo bin und die Toiletten-Frage auftaucht. All die Sachen, die im Alltag so nebenbei passieren, die unglaublich viel Kraft kosten, weil sie einfach immer da sind, die mal für ein Wochenende rauszunehmen und einfach auch mal andere Menschen kennenzulernen, denen es ähnlich geht, die da ähnliche oder auch ganz andere Erfahrungen gemacht haben und sich da einfach mal auszutauschen und zu vernetzen. Wir haben dann selbstorganisierte Workshop-Slots eingerichtet, bei denen einzelne Personen dann was zu verschiedenen Themen vorbereitet und angeboten haben. Es gab Austausch-Runden zu Themen rund um Nicht-Binarität, Abinarität, aber auch ganz andere Sachen, z.B. irgendwelche kreativen Sachen, die überhaupt nichts mit Queerness zu tun haben, sondern einfach einen Raum schaffen, in dem man nicht überlegen muss, sich nicht erst vorstellen und erklären muss, dass meine Pronomen weder er noch sie sind. Einfach mal tun und kreativ sein, genießen; also ganz viele verschiedene Sachen. Dieses Wochenende hat zwei Jahre hintereinander stattgefunden.

Luca Siemens, Interview 2022

Welche Formen von Zugehörigkeiten und / oder Ausschlüssen kenne ich?

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Die queere Community ist und war nicht nur ein Ort gemeinsamen Engagements, sondern es gibt und gab viele getrennte Räume und Kämpfe.

Insbesondere in den 1980er Jahren entwickelten sich lesbisch-feministische und schwule Projekte bewusst unabhängig voneinander. Erst private Kontakte und gemeinsame Visionen brachten diese zusammen. Damit wurde eine Bewegung angestoßen, die zur Selbstorganisation und Vernetzung von trans* Personen und weiteren Identitäten im queeren Spektrum führte.

Queere Räume und Gemeinschaften sind nicht frei von Diskriminierung und Rassismus. Heute ist weiter umstritten, wer einen Platz in einer queeren Bewegung hat. Die Hörpassagen zeigen, welche Rollen Bürgerlichkeit und Fetisch, lesbische Weiblichkeit und provokatives Tuntentum spielen können.

„Es gibt kein Männerklo im FrauenLesbenZentrum“

Jörg Lühmann

„Mir war im Rahmen der Prävention klar, dass also natürlich müssen wir die Sex-Orte aufsuchen und Empowerment und hin und her. Wo ich so gedacht habe, politische Arbeit? Da haben doch Schwule und Lesben eigentlich was gemeinsam, ne?‘ Also dass es nämlich um Anerkennung und gleiche Rechte geht. Und dann habe ich euch einen Brief geschrieben, ob ihr Bock hättet, mit uns zusammen an schwul-lesbisch politischer Arbeit irgendwas zu machen. Und dann kam zurück ein ganz nass-kalter Anruf: ‚Nee. Und wir haben auch kein Männerklo‘ [Gelächter]. Und dann habe ich [großes Durcheinander], das hat die Frau mir gesagt und meine Annahme, warum das überhaupt nachher so exzellent klappte, das liegt da dran, dass es Frauen gab wie Rosie Breitwieser oder Martina Ploghöft oder Silke Eggers oder…“

Jörg Lühmann, *1951, Gesprächsrunde Queere Jugendgruppe 2020

„Damals waren wir alle im schwulen Kästchen“

Klaus Müller

„Mein schwules Leben ist sehr viel vielfältiger geworden, natürlich. Damals waren wir eher alle in einem schwulen Kästchen. Und wir hatten auch zu Lesben eigentlich keinen Kontakt. Wenn, dann nur zu wenigen. Aber heute finde ich es eigentlich toll, dass sich das geändert hat. Auch im Freundeskreis habe ich inzwischen Lesben, und dadurch lerne ich auch eine ganze Ecke zusätzlich. Und so ist es auch mit Transpersonen. Früher gab es die eigentlich überhaupt nicht, zumindest in der Gruppe tauchten keine auf und ich kannte auch keine Person. Dies ist heute anders und ich erlebe die Zugänge zu anderen dadurch sehr viel differenzierter und es ist für mich sehr spannend das mitzuerleben.“

Klaus Müller, *1952, Interview 2022

Ich habe immer mit Feminist*innen zusammengewohnt

P.

„Ich habe auch mit unterschiedlichen Menschen zusammengewohnt. Mit anderen Schwulen eigentlich nie, aber mit Frauen, die ein Handicap hatten, mit allem Möglichen. Mit Kiffern, mit exzentrischen Punk-Frauen. Und auch mit einer Frau, die noch in der sexuellen Findung war, sie sagte, sie wäre bisexuell, später wurde sie heterosexuell. Ich habe auch immer mit sehr vielen Feministinnen zusammengewohnt, ich hatte auch immer zu sehr vielen Lesben Privatkontakt. Auch eine war bei uns in der Theatergruppe, das ist eine sehr interessante Geschichte. […] So richtig organisierte Lesben, die dann auch eigene Gruppen hatten, das lernte ich erst in Berlin kennen. Irgendwie wurden die so ein bisschen absorbiert von den ganzen Frauenprojekten, aber das war wohl überall so. Es war jetzt auch nicht so, dass den Lesben irgendwelche Hindernisse in den Weg geworfen worden sind. Ich habe sie auch immer in unserem Big Apple getroffen. Obwohl sie da gar nicht hingehen hätten müssen. Frauenkneipen, geschützte Räume für Frauen in Göttingen gab es auch schon damals. Göttingen war immer eine liberale Stadt, so habe ich es jedenfalls erlebt.“

P, *1959, Interview 2022

„Ja die Abgrenzung zu den bürgerlichen Schwulen. Die fühlten sich ja immer auf den Schlips getreten, wenn wir uns dann als Schwestern angesprochen haben oder die oder sie. ‚Ich bin keine Tunte, ich bin ein richtiger Mann!‘ Die fühlten sich dann immer gleich in ihrer Männlichkeit getroffen. Dabei sollte die Feminisierung (Anm.: damals schon!) ja auch dieses ganze Rollenverständnis aufbrechen. Also zum Beispiel war es ja auch immer so, dass bei den bürgerlichen Schwulen die Tunten bzw. die Transvestiten, wie sie früher genannt wurden, ja fürchterlich diskriminiert wurden. Weil sie ja auch das ganze Geschlechterverständnis infrage gestellt haben. Dann kamen auch immer diese Sprüche: ‚Wenn diese Tunten nicht wären, ginge es uns allen besser, dann würden wir auch nicht so diskriminiert werden, und die Tunten schaden unserem Ruf‘. […] Alle Schwulen, die exzentrisch oder auffällig auftreten oder Männer, die in Lederklamotten rumlaufen (Ledertrinen genannt damals), bekamen von anderen Schwulen zu hören ‚Das schadet uns, Ihr schadet uns!‘ Also am besten möglichst angepasst und bürgerlich und unauffällig rumlaufen und sich ja nicht mit Schwester anreden, das schadet uns. Also super angepasst und unauffällig, so kommen wir am besten durch, und dann haben uns alle lieb. Das ist ja dieser verinnerlichte Mechanismus bei diskriminierten Minderheiten. Sich das bürgerliche Normenkorsett überziehen, in der Hoffnung, dann endlich anerkannt und akzeptiert zu werden von der Mehrheitsgesellschaft. Da schwingt viel Selbsthass mit.“

P. *1959, Interview 2022

„Subtrinen! Das ist alles Sprech aus den westdeutschen Schwulengruppen. Also die wurden richtig hart rangenommen. Also nicht im sexuellen Sinne, sondern inhaltlich, in dem Sinne, dass ihnen vorgeworfen wurde, sie wollten nur ihre vordergründig sexuellen Interessen befriedigen. Sie seien ja nur da, um jemanden kennenzulernen und gar nicht, um hier politisch hart zu arbeiten. Was insofern geheuchelt war, weil, wenn neue Mitglieder in die Schwulengruppe kamen – das habe ich ja selber erlebt, als Erstsemestler oder so –, dann haben sich natürlich die Älteren aus der Schwulengruppe genauso auf die gestürzt. Das war ziemlich geheuchelt. Aber das war ja diese Doppelmoral. Mann hat sich ja immer – weil Mann denkt, Mann war politisch korrekter oder aufgeklärter – über diese kleinbürgerlichen Mechanismen erheben dürfen. Alles fürchterlich und selbstgerecht.“

P., *1959, Interview 2022

„Schwule waren für uns Herrschaft“

Regina Meyer

„Das war auch am Anfang, 80er Jahre, da hatten wir nichts mit Schwulen zu tun. Wir waren mehr oder weniger eine männerkritische, zum Teil männerfeindliche Bewegung, und Schwule waren für uns Männer und hatten ein anderes Standing. Die waren für uns Herrschaft, qua Mann. Man sieht ja nicht wer schwul ist und wer nicht, sie hatten eine andere Machtposition, sie hatten immer mehr Geld, sie haben mehr Zugänge zu den Positionen und Funktionen in diesem Leben […] Das ist auch bis heute so geblieben. […] Das ist auch der Hauptunterschied, glaub ich, zu euch Schwulen gewesen, dass wir uns noch mal in einem ganz anderen, einer ganz anderen, ja, Identifizierung und Kampf stellen mussten. Es gab davor so was nicht wie ‚Frauen machen was alleine‘. Also das muss man historisch so einordnen, und das war eine ganz andere Nummer, deshalb war es für mich auch überhaupt keine Frage, irgendwas mit Schwulen zu machen. Ich glaube, ich kannte keine [Gelächter]. Das hat sich dann aber über die Jahrzehnte extremst geändert.“

Regina Meyer, *1962, Gesprächsrunde Queere Jugendgruppe 2020

„Mit Lippenstift ins FrauenLesbenZentrum“

Karen Nolte

„Ich bin dann also ins FrauenLesbenZentrum gegangen, da war auch eine Party. Ich hatte damals lange blonde Haare und hatte Lippenstift aufgetragen. Ich habe mich eben richtig hübsch angezogen [Karen fängt kurz an zu lachen] und das kam auch nicht so gut an. Weil die Frauen, die sich da engagiert haben, waren eben autonome Frauen, die haben Kapuzenpullover und zerrissene Jeans getragen. Die dachten sich vermutlich, was ist die denn für eine, was will die denn hier? Die waren aber altersmäßig nicht so weit von mir entfernt, aber sozusagen von der Kultur oder eben vom Aussehen und dem Habituellen.“

Karen Nolte, *1967, Interview 2022

„Noch mehr Lebensrealitäten repräsentieren“

Simone Kamin

Die LesBiSchwulen* Kulturtage haben sich 1995 gegründet, als Lesben und Schwule ein gemeinsames kulturelles Event auf die Beine stellen wollten – während sie zuvor eher in Parallelstrukturen aktiv waren, wo es offenbar zum Beispiel auch für bisexuelle Menschen wenig Raum gab, zur damaligen Zeit. Mit den Jahren bestand die Vernetzung bei den LesBiSchwulen* Kulturtagen natürlich nicht mehr nur zwischen lesbischen, bisexuellen und schwulen Personen und Gruppen, sondern erweiterte sich auf trans*, nichtbinäre und genderqueere Personen und eben auf entsprechende Themenkreise und Bedürfnisse. Im Namen und im Logo der LesBiSchwulen* Kulturtage wird die Vervielfältigung der queeren Community seit 2008 mit einem Sternchen gekennzeichnet. Das Sternchen steht für die Vielfalt sexueller und geschlechtlicher Identitäten und Lebensweisen. Menschen mit unterschiedlichsten geschlechtlichen Identitäten, Lebens- und Begehrensweisen, Beziehungs- und Familienmodellen sind eingeladen, die Kulturtage mitzugestalten und sollen ein Programm vorfinden, das ihrer Lebensrealität und ihren Bedürfnissen entspricht. Bislang werden die Kulturtage leider kaum durch BlPoC mitgestaltet. Auch arbeiten bisher keine offen inter*geschlechtlichen Personen im Kulturtage-Team mit. Die Kulturtage sind offen dafür, dass sich dort noch mehr Gruppen mit organisieren, sodass auch noch mehr Lebensrealitäten repräsentiert werden können.“

Simone Kamin, *1974, Interview 2022

Wofür habe ich mich engagiert?
Wofür engagiere ich mich?

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Menschen im LSBTIAQ*-Spektrum finden und vernetzen sich für gemeinsame Aktivitäten, um sich – nach innen – als Gruppe zu stärken oder sich – nach außen – für die Selbstverständlichkeit, Rechte und Sichtbarkeit der eigenen Lebensweise einzusetzen.

Queerer Aktivismus hat viele Gesichter: gegenseitige Unterstützung zur Selbstermächtigung für ein selbstbestimmtes Leben; Selbstorganisation und Vernetzung für queer-politische Interessenvertretung; gemeinsame Organisation von (Sozio-)Kultur, um das Leben in einer großen Community zu feiern. Motivation, Ziele und Strategien von Aktivismus sind vielfältig, veränderlich, personenabhängig und werden immer wieder neu verhandelt. Hier spielen auch Konflikte in der Community oder gesellschaftliche Machtverhältnisse eine Rolle.

„Also, die Frauenprojekte sind die Strukturen, die erhalten geblieben sind. Das ist historisch gesehen wirklich eine Leistung. Gesetzgebung zu Gewaltmissbrauch. Frauennotruf und Frauenhaus sind Erkämpfungen der zweiten Frauenbewegung. Wir hätten das aber nicht institutionalisiert bekommen, wenn die erte Bewegung nicht über Jahre und Jahrzehnte zusammen seit über 100 Jahren die Vorarbeit geleistet hätte. Und immer noch ist das Frauenhaus nicht stabil in einem Bundesgesetz so verankert, dass die nicht immer wieder um Geld bangen müssen. Also gegen Gewaltmissbrauch, sexuelle Gewalt, sexualisierte Gewalt, das ist eine Leistung. Dann, der therapeutische Sektor, die therapeutische Frauenberatung, ist das dritte Frauenprojekt. Und wenn wir Frauenprojekt sagen, dann müssen wir immer FrauenLesbenprojekt sagen. Lesben waren immer verdeckt mit dabei, manchmal waren sie sogar die treibenden Kräfte.“

Regina Meyer, *1962, Interview 2022

„Dieses kleine Hexenhäuschen“

Regina Meyer

„Es gab also dieses kleine Hexenhäuschen in der Langen-Geismar-Straße, und dann haben wir uns mithilfe des Stadtrates, erst mal noch gegen den Stadtrat, es waren die ersten Anträge und öffentlichen Äußerungen. Nachdem dieses Hexenhäuschen verkauft worden ist, haben wir halt um eigene Räume gekämpft, gesucht mit Immobilienmaklern. Bei der Stadt war die SPD sehr hilfreich, besonders zwei Frauen aus der SPD-Ratsfraktion, Brigitta Stammer und Antje Brockmüller. Die haben uns geholfen, dann die Düstere Straße 21 zu finden. Da ist jetzt eine Galerie drin. Da hatten wir eine Hütte über mehrere Etagen, die war groß, da konnten wir Partys machen. Viel ist über Partys gelaufen. Das war nicht renoviert, wir mussten noch renovieren, das haben wir größtenteils selber renoviert. Da konnten Gruppen stattfinden. Also dieser Treffpunkt war enorm wichtig. Das ist dann aber zugegangen, weil auch wieder gekündigt. Es waren ja alles private Räume. 92 wurde es dann besetzt. Da sieht man auch die Militanz der damaligen Jahre, und 93 war dann aber Ende. Also 93 ist dann geräumt worden, polizeilich geräumt worden, und danach haben wir nie wieder was Richtiges gehabt, in meinen Augen.“

Regina Meyer, Gesprächsrunde Queere Jugendgruppe 2020

„Ich hatte die Faxen so dicke“

Oliver Ehrhardt

„Da kann ich dir ne schöne Geschichte erzählen. Neunzehnhundert und oh Gott, ich sage mal vierundneunzig, fünfundneunzig, hat sich der Dachverband, der bundesweite Dachverband, die schwul-lesbische Volleyballliga e.V. gegründet, und da bin ich als junger Mann zu dieser Konstituiertensitzung gegangen. Und da ging es ungelogen drei Stunden darum, heißt der Verein nun lesbisch-schwul, schwul-lesbisch oder nur schwule Volleyballliga, lassen wir die Frauen ganz raus? Drei Stunden Diskussion, nach anderthalb Stunden bin ich shoppen gegangen, und ich hatte damals schon ein Handy, ich war echt in. Und hab gesagt, Leute ich hab‘ da keinen Bock drauf, ruft mich an, wenn ihr soweit seid, und ich stimme dann einfach mit ab. Ich hatte die Faxen so dicke von so einem Schwachsinn. Naja und die gleichen Diskussionen führen wir jetzt wieder. Mit queer, mit Labeling, sind wir offen für, wollen wir die Transleute dabei haben? Die non-binaries? Ne? Wo wir nicht wissen, mit welchem Pronomen wir sie ansprechen wollen. Ja das ist anstrengend, aber man muss gucken, wo sie bleiben, und das sind alles Fragen, die uns heute immer noch beschäftigen, auf einer gewissen anderen Ebene?“

Oliver Ehrhardt, *1976, Interview 2022

„Ein bisschen queeres großstädtisches Leben hierherholen“

Johanna Kaul

„Ich bin dann ungefähr um 2000 wiedergekommen aus Berlin nach Göttingen und habe dann irgendwann festgestellt: ‚Naja, kulturell und veranstaltungsmäßig liegt ja doch manches brach‘, und zum Glück gaben da die LesBiSchwulen* KULTURTAGE die Möglichkeit, dass man die fehlenden Events einfach selber gestaltet. Wir hatten ein bestimmtes Budget und konnten dann sagen: ‚Wir möchten die und die Gäste einladen, weil uns das Thema interessiert.‘ Das war der eine Bereich, diesen ganzen politischen Bereich abzudecken. Dann gab‘s natürlich den ganzen kulturellen Bereich, es heißt ja auch ‚Kulturtage‘. Es war Politik, es war Theater, es war Film. Wir haben Konzerte veranstaltet, es gab Partys. Es war eigentlich so: ‚Wenn dir was fehlt, mach es selbst‘. Es war alles doch sehr Low-Budget, es war immer ein bisschen alternativ und politisch auch immer eher linksverortet. Das war mir auch sehr wichtig. Aber für mich war es auch einfach schön, so die Anbindung an Berlin zu erhalten, indem ich mir die Leute eingeladen habe, die man so kannte oder die man aus der Siegessäule kannte und das hier weiterzuführen. Ein bisschen queeres großstädtisches Leben hierherzuholen, das waren ja immer vier bis sechs Wochen, Oktober bis November jedes Jahr, und die haben wir dann gefüllt. Das war im Prinzip auch total toll, weil man das selber organisiert hat und sich überlegt hat, wie man die Finanzierung gesichert bekommt. Und überhaupt die Gruppenprozesse, wie machen wir das, welche Räume haben wir zur Verfügung? Das Ganze war ein riesiges Lernfeld, abgesehen davon, dass es natürlich auch Spaß gemacht hat in so einer netten Gruppe. Die Gruppe hat sich über die Jahre auch immer ausgetauscht, sodass regelmäßig neue Leute dabei waren. Die Kulturtage waren somit auch ein guter Anlaufpunkt, wenn Leute neu nach Göttingen kamen, um anzudocken an die Szene und ein paar Leute kennenzulernen. Wenn du intern in der Veranstaltungsplanung bist, bist du ja schon mittendrin im Geschehen. Dann hast du im Prinzip ganz viele Leute getroffen, weil man einfach ganz andere Kontaktmöglichkeiten hatte. Wir haben deutlich gemerkt, dass mit jedem neuen Semester die Leute happy waren, uns zu finden, um mitzumachen.“

Johanna Kaul, *1971, Interview 2022

„So ein schönes Zusammengehörigkeitsgefühl“

Johanna Kaul

„Ich finde dieses Zusammenführen von Leuten absolut schön und wichtig gegen diese zunehmende Vereinsamung und Vereinzelung. Du gehst vier bis sechs Wochen zu den Veranstaltungen und siehst alle drei Tage die gleichen Leute wieder und kannst total gut mal kontakten, dich an die Szene anbinden. Ich glaube wirklich, das ist extrem wichtig. […] Das ist auch immer so eine Mischung: Man engagiert sich zusammen, man freut sich, sich zu sehen, man macht was Nettes zusammen. Das ist auch das Schöne in dieser Community, dass sich so viel überschneidet zwischen Privatem und Aktivismus. Das ist eine große Gemengelage und es ist so toll an der Community, dass das für viele andere auch diese Bedeutung hat. Deswegen ist es auch eins meiner Anliegen, Göttingen so eine Community zu geben und mit Leben zu füllen über das Queere Zentrum, die Kulturtage oder die queerBar. […] Ich bin sehr froh, dass ich zu dieser LSBTIAQ*-Community gehöre, weil das einfach so ein schönes Zusammengehörigkeitsgefühl gibt. Ich finde, wenn man unterwegs ist, in anderen Städten oder international, dann kannst du immer zu solchen Orten gehen und fühlst dich zugehörig. Man hat wenig Fremdheitsgefühl in der Welt, weil man sich einfach die Orte suchen kann und die Menschen finden kann. Und dann gibt es schon eine Offenheit und eine Herzlichkeit – meistens –, dass man andocken oder zumindest da sein kann und sich sicher, aufgehoben fühlen kann. Ich finde, das ist eine Riesenfreude an dieser Community. Das wird auch immer mein Anspruch sein, so zu leben und da zu sein für andere Leute, damit man sich zusammengehörig fühlt als Bewegung. Ich glaube deswegen habe ich das alles auch immer gemacht, das war eine Grundintention meiner Aktivität, um so eine Community zu haben.“

Johanna Kaul, *1971, Interview 2022

„Kulturtage kaum noch zu bewältigen"

Johanna Kaul

„Ich weiß, dass wir uns vorgenommen hatten, das Programm etwas zu verkleinern, weil wir im Laufe der Jahre auf vier bis sechs Wochen gewachsen sind und das eigentlich kaum noch zu bewältigen war, auch von der Koordination her. Du musst dann abends bei den Veranstaltungen sein und die Leute empfangen und moderieren oder nochmal mit den Leuten essen gehen und immer im Blick haben, wie das Ganze läuft. Der Umfang ist sehr groß geworden, und dann muss auch das Organisations-Team sehr groß werden. Es hat sich schon gezeigt, dass es ein bisschen schwierig war, genügend Ehrenamtliche zu finden. In manchen Jahren waren viele Leute da und in manchen ganz wenige. Und dann ist das natürlich schwer zu stemmen.“

Johanna Kaul, *1971, Interview 2022

„Möglichst herrschaftsfreier Raum"

Johanna Kaul

„Und dann habe ich vor der Pandemie einmal im Monat bei der queerBar im JuZi mitgemacht. Die queerBar ist autonom organisiert und nicht kommerziell, ein Barabend, wo ein möglichst freier, diskriminierungsfreier, herrschaftsfreier Raum entstehen sollte. Die queerBar gibt es seit 10 Jahren mittlerweile – tatsächlich waren es immer sehr unterschiedliche Zahlen an Leuten, die gekommen sind. Vor ein paar Jahren war die Bar knallvoll, manchmal kamen aber auch nur fünf. Es ist ganz schwer zu sagen, wie sich das entwickelt. Zum 10. Geburtstag der queerBar letztes Jahr haben wir tatsächlich so einen coolen Livestream gemacht mit DJs und Liveauftritt von Frau Doktor, sie hat ungefähr eine Dreiviertelstunde lang launige Lieder gesungen: eine fabelhafte Tuntenshow abgeliefert, außerdem gab es ein Queer-Quiz mit Göttingen-Bezug. Das war im letzten Jahr ein sehr schöner, allerdings auch mega arbeitsaufwendiger Beitrag zum queeren Kulturleben. Wir versuchen eigentlich immer alles low-budget zu machen – also keine oder ganz niedrige Eintritte zu nehmen, damit auch möglichst viele Leute kommen können. Die queerBar ist auch nicht gedacht als große Halligalli-Party, sondern Hauptsache ist, dass etwas Queeres stattfindet und die Leute zusammenkommen und eine gute Zeit miteinander haben.“

Johanna Kaul, *1971, Interview 2022

„Ich war mit Feuer und Flamme dabei"

Simone Kamin

„Zu Beginn meiner Aidshilfe-Tätigkeit übertrug mir mein Kollege und Geschäftsführer Jörg die Aufgabe, im Rahmen meiner hauptamtlichen Arbeit an den Kulturtage-Treffen teilzunehmen, also an den Organisationstreffen, um das überwiegend ehrenamtliche Koordinationsteam zu unterstützen. Es dauerte nicht lange und ich war mit Feuer und Flamme dabei. Die LesBiSchwulen* Kulturtage wurden für mich ganz schnell zu einer Herzensangelegenheit. Über die Jahre übernahm ich hauptamtlich Aufgaben der Koordination, für die Gruppe eben, und für die Öffentlichkeitsarbeit und konnte so zur Kontinuität und zur Professionalisierung dieser etablierten und beliebten Veranstaltungsreihe beitragen. Es entwickelte sich dann auch ganz automatisch, dass die Aidshilfe als Ort der Treffen auch regelmäßig genutzt wurde, das heißt, es gab die nötige Infrastruktur: ‚Es ist warm, es gibt was zu trinken, es gibt auch mal etwas zu knabbern, wir können kopieren, ausdrucken und telefonieren‘. Das alles trägt natürlich dazu bei, dass so eine Veranstaltungsreihe auch wirklich stabil geplant werden kann, weil immer ein Ort da ist, der kostenfrei genutzt werden kann, dessen Infrastruktur einfach zur Verfügung steht und somit dann eben auch zur Kontinuität und Professionalisierung einiges getan war. Die LesBiSchwulen* Kulturtage sind immer eine freischaffende, selbstorganisierte, unabhängige Gruppe gewesen, die eben, gefördert durch Infrastrukturen der Aidshilfe, gefördert durch kommunale Fördergelder und einige weitere Finanziers, immer in der Lage war, selbstorganisiert das Veranstaltungsprogramm zusammenzuschnüren, und das in Zusammenarbeit mit vielen Kooperationspartner*innen, also vielen Gruppen aus dem Göttinger Spektrum. Also es gab da immer weiterhin die Eigenständigkeit der Gruppe selbst, aber eben auch den sicheren Hafen und die Ausstattung durch die Aidshilfe. Bei der Organisation der LesBiSchwulen* Kulturtage sind unglaublich viele Aufgaben zu leisten. Zum Beispiel haben sich Menschen ehrenamtlich um die Beantragung und Verwaltung von Fördergeldern gekümmert. Das war zum Beispiel nicht meine Aufgabe, auch nicht hauptamtlicherseits. Andere haben für die Kulturtage nach und nach eine starke Präsenz im Internet aufgebaut, Social Media beackert, die Homepage professionalisiert. All diese Dinge.“

Simone Kamin, *1974, Interview 2022

„Initialzündung zur Gründung eines queeren Zentrums"

Simone Kamin

„Für mich war sehr entscheidend, dass wir im Rahmen der LesBiSchwulen* Kulturtage 2015 die Initialzündung zur Gründung eines queeren Zentrums in Göttingen legen konnten. Das war eine sehr, sehr spannende Zeit, und da war viel Pioniergeist mit dabei, und wir wollten uns unbedingt verräumlichen, institutionalisieren. Wir wollten, dass queere Belange in einem Haus zusammengefasst sind, dass es dafür Geld gibt, dass da jemand gegen Geld arbeitet und dass es wirklich wie in anderen Orten, wie Braunschweig und Hannover und so weiter, auch in Göttingen diesen sicheren, finanzierten Ort geben soll, der eben über das reine Ehrenamt, über die reine Vernetzung hinaus eben wirklichen, einen physischen Ort, einen professionell geführten Ort dann eben möglich macht. Und dieses Zentrum aufzubauen und überhaupt dafür die Gelder zu beschaffen, dafür eine Willensbildung in der queeren Community überhaupt zu bewegen, das war eine sehr spannende Zeit in den Jahren 2015 und 2016 und für mich persönlich ein ganz wichtiger Meilenstein, eine ganz wichtige Strecke.

Also 2015 hatten wir dann, während der LesBiSchwulen* Kulturtage ein Initialtreffen. Alle Menschen, die interessiert waren an dem Aufbau eines solchen Zentrums, konnten teilnehmen. Wir hatten auch gezielt queere Gruppen, also Gruppen aus dem LSBTIQA-Bereich, gezielt angeschrieben, an dem Abend doch bitte präsent zu sein und die eigenen Bedürfnisse und Wünsche mit zu äußern, und haben dann wirklich auf großen Moderationswänden gesammelt: ‚Was bräuchtet ihr, um in so ein gemeinsames Zentrum mit einzuziehen, was macht für euch so ein Zentrum attraktiv oder wäre es gar nicht so euer Ding?‘“

Simone Kamin, *1974, Interview 2022

„Deswegen ist diese Gruppe so wertvoll"

Luca Siemens

„Als wir mit der queeren Jugendgruppe gestartet haben, haben wir uns zweimal im Monat getroffen. Dann kam allerdings relativ schnell von den Jugendlichen bzw. von den jungen Erwachsenen – die Gruppe ist bis 27 Jahre – der Wunsch, das Treffen regelmäßiger zu machen. Wir haben uns daraufhin organisiert, und als das Leitungsteam dann aus vier Leuten bestand, haben wir gesagt, wir können es stemmen, jede Woche ein Treffen zu machen. Manchmal haben wir Programm. Dann bereiten wir was vor als Leitungsteam, wo wir dann sagen, heute machen wir mal was Kreatives. Wenn mal wieder ein CSD ansteht, haben wir auch schon mal gemeinsam Transpis bemalt. Manchmal haben wir auch inhaltlich gearbeitet, dann gibt es ein bisschen Input zu verschiedenen Themen. Wir haben mal was zum Thema Drag gemacht oder zum Thema Pride-Flaggen, manche Themen kommen aus der Gruppe, andere aus der Leitung. Mein Eindruck über die letzten Jahre ist, dass die Menschen einfach einen Ort brauchen, wo sie hinkommen können, weil bei manchen die Situation zuhause vielleicht nicht so cool ist: Sie sind noch nicht geoutet; es ist nicht so einfach mit dem Outing; sie wollen sich gar nicht outen, weil sie selber noch gar nicht wissen, als was, wie sie sich outen wollen oder sie sind noch in der Findungsphase. Deswegen ist diese Gruppe so wertvoll: einfach mal einen Raum zu haben, in dem sie sich ausprobieren können, sich sicher fühlen. Dort haben sie zum einen uns als Ansprechpersonen, falls sie Fragen haben, aber zum anderen auch die anderen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zum Austausch und zum Miteinander. Man kann sich den Ablauf so vorstellen, dass es eine Eingangsrunde gibt, während der jede Person ihren Namen sagt und ihr Personalpronomen. Das ist auch eine schöne Gelegenheit, mal einen neuen Namen auszuprobieren oder ein neues Pronomen, ohne irgendwas erklären zu müssen, sondern das einfach in der Runde sagen zu können, und das ist dann so, und alle nehmen das an und versuchen es umzusetzen und respektieren es.“

Luca Siemens, Interview 2020

„Alles noch im Wachsen und Werden"

Luca Siemens

„Als ich Elternteil geworden bin, war es mir wichtig, mich mit anderen queeren Eltern auszutauschen, aber da gab es nichts in dem Bereich, und da haben meine Partnerin und ich uns gedacht, da muss sich doch was machen lassen. In Zusammenarbeit mit dem Queeren Zentrum haben wir dann überlegt und entschieden, dass es eine gute Idee wäre, so eine Gruppe ins Leben zu rufen. Wir haben dann ein paar Leute, die wir privat kennen, angesprochen, und darüber hat sich dann eine kleine Gruppe gefunden. Bisher haben wir uns, der Pandemie geschuldet, noch nicht fix in irgendwelchen Räumlichkeiten treffen können, sondern immer nur nach Absprache in kleineren Runden. Interesse bekundet haben mittlerweile schon so 10 Familien, die sich über die letzten vier Monate dann bei uns gemeldet haben. Sie haben dann in dem Newsletter oder über die Seite vom Zentrum von uns erfahren. Das ist aber gerade alles noch im Wachsen und Werden. Ich wünsche mir grundsätzlich, dass diese Gruppe existiert und wächst, damit Austausch in der Community möglich ist und damit einher ein gegenseitiges Stärken und Begleiten. Es gibt nämlich Menschen, die gerade durch das Stiefkindadoptionsverfahren gehen, Menschen, die das nicht tun, weil sie sich dagegen entschieden haben, oder Menschen, die in irgendwelchen Institutionen Stress haben, weil irgendwelche Leitungen ein Problem mit Regenbogenfamilien haben. Ich möchte einfach, dass da dann ein Netzwerk ist, von dem sich Menschen Energie holen und gemeinsam etwas dagegen tun können – dass da eine Community wächst. Und vor allem wünsche ich mir, dass die Kinder was davon haben, dass sie auch Bezug zu Kindern haben, die, genau wie sie, nicht in heteronormativen Familien groß werden. Ich wünsche mir für die Kinder, dass sie da eine Gruppe haben, bei der sie merken, okay, ich bin gar nicht so anders als die anderen Kinder. All das sind so Sachen, die ich mir wünsche.“

Luca Siemens, Interview 2020