Raum 4

Alltag und Subkultur

Welche Orte und Aktivitäten sind für mich wichtig?

Welche Orte und Aktivitäten sind für mich wichtig?

Themen in diesem Raum…

privat

halböffentlich

öffentlich

Auch das Private ist politisch!

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Mit diesem Slogan bezeichnete die Lesben-/Frauenbewegung auch alltägliche Normen in Familie und Beziehungen als sexistisch. Im Privaten ging es darum, den patriarchalen Blick auf den weiblichen Körper und die Benachteiligungen von Frauen aufzuzeigen. Weibliche Unabhängigkeit von Männern und eine Selbstbestimmung über Körper und Einkommen waren bis in die 1970er Jahre nicht denkbar.

So leben zu dürfen, wie mensch möchte, ist nach wie vor umstritten. Wer darf frei von Bedrohung leben, wer darf wen heiraten und Kinder großziehen? Lange galt Homosexualität als etwas völlig Privates, ansonsten gab es kaum Schutz vor Diskriminierung. Von der schwulen Klappensexualität bis zur Ehe für alle war es ein weiter Weg. Die Reform des Schwulenparagraphen 175 gab 1969 zunächst den Freiraum für eine Vielzahl von Beziehungserfahrungen, bevor mit der Eingetragenen Lebenspartnerschaft und der Ehe für alle ab 2017 ein notwendiger Schritt in Richtung Gleichberechtigung getan wurde.

Klappen und Cruising

Bis zu den 1970er Jahren trafen sich Schwule überwiegend anonym auf öffentlichen Toiletten, sogenannten Klappen, oder nachts im Park. Es war beklemmend, an diesen Orten nach Liebe zu suchen. Wegen Exhibitionismus, Belästigung oder Hausfriedensbruch konnten Schwule angezeigt werden. Auch in Göttingen waren die Toiletten der Innenstadt, insbesondere an der Jacobi-Kirche, frequentiert, sowie die Cruising-Gebiete am Ernst-Honig-Wall am Theater und in der Leinemasch. Während das Cruising teilweise heute noch beliebt ist, hat die Bedeutung der Klappen stark abgenommen.

Kontaktanzeigen und Dating-Portale

Schon seit der Weimarer Republik gibt es homosexuelle Kontaktanzeigen in Zeitungen. Dabei verwendeten Redaktionen Chiffren, da Kuppelei noch strafbar und Erpressungen an der Tagesordnung waren. Schwule Partnerservices in den 1990er Jahren arbeiteten mit einem analogen Match-System, das als Vorreiter der digitalen Partnersuche gelten kann. Heute kommen die meisten Dates über die Portale Romeo und Grindr zustande. Romeo ist das größte deutschsprachige Netzwerk und Grindr führt weltweit mit mehr als 27 Millionen Usern. Regionale Gemeinschaft wird damit untergraben, Community kann nicht mehr entstehen.

Partnerschaft

Seit dem 1. August 2001 war gleichgeschlechtlichen Beziehungen eine Eingetragene Partnerschaft erlaubt. Die erste sogenannte Homo-Ehe im Landkreis Göttingen wurde am gleichen Tag in Dransfeld geschlossen, zwei Tage später gaben sich in Göttingen Carsten Ertl und Frank Schaub-Ertl im Alten Rathaus Göttingen das Ja-Wort.
Seit Oktober 2017 können Personen gleichen Geschlechts eine zivilrechtliche Ehe auf Lebenszeit eingehen. Allein im Folgejahr heirateten in Göttingen 50 gleichgeschlechtliche Paare. Nach einem grundlegenden Wandel des Eheverständnisses gibt es nicht mehr Lebenspartnerschaften, sondern nur noch die Ehe für alle.

Wohnkultur

Schwule Kultur war lange Zeit nicht öffentlich verfügbar, umso bedeutender waren Symbole, die ins Private getragen wurden, wo das Doppelleben ein Ende fand. Dort wurde mit Jünglingsstatuetten die Antike heraufbeschworen, während die Wände schrille, oft provokative anstößige Bilder zierten. Beliebt waren Motive der Künstler Pierre & Gilles, Robert Mapplethorpe oder die Maskulinität eines Tom of Finland. Es bildete sich eine grelle Camp-Ästhetik und Popkultur heraus, die sich bei Gucci, den Dragqueens oder Lady Gaga wiederfand. Zu viel war gerade gut genug.

Sexualität und Safer Sex

Sexualität ist in der queeren Community weniger tabuisiert als in der Allgemeinbevölkerung. Seit der Aidskrise entwickelte die schwule Szene einen selbstbewussten Umgang mit Safer Sex.
Die sinkenden HIV-Neuinfektionen in Deutschland sind insbesondere auf das Gesundheitsverhalten schwuler Männer und die wirksame HIV-Therapie zurückzuführen: Beim Sex verhindern die Medikamente die Virusübertragung auf eine*n Sexpartner*in. Menschen ohne HIV können sich mit der PrEP (Prä-Expositions-Prophylaxe) medikamentös vor einer HIV-Infektion beim Sex schützen. Die Göttinger Aidshilfe und das Präventionsnetzwerk ´s*ven – Sexuelle Vielfalt erregt Niedersachsen ´ fördern sexuelle Gesundheit mit Präventions- und Testangeboten.

Lust und Fetisch

Was sind Puppys, Ledertops, Pony Girls? Butt-Plugs, Play-Partner und Poly-Netzwerke? Eine sexuelle Befreiung umfasst auch Sextoys, sexuelle Praktiken und Beziehungsformen. Leder, Sportsgear, Rubber, Unterwäsche, Boots, Lycra, Uniform, Anzug, Raver, Sneaker, Jeans, Dessous und BDSM gehören zu einer queeren Szene. Dennoch wollen Menschen aus dem LSBTIAQ*-Spektrum nicht nur über ihren Sex definiert werden. Dominierte bei den Schwulen in den 70er Jahren noch der Trend zu Lederklamotten und Fummel, so ist inzwischen das Petplay weit verbreitet, bei dem die Partner in Tierrollen schlüpfen, um sich von Schamgefühlen zu befreien.

Feiern als Ausdruck und Entwicklung von Persönlichkeit?

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Freizeitaktivitäten in geschützten Räumen gaben queeren Menschen Rückhalt. Sonntagscafé, Wandern, Tanzkreise, Kegeln und diverse Sportarten lockten in die Gruppen: Angefangen mit dem Frauenfest der Evangelischen Studentengemeinde bis zu Feten der HAG. Wenn am Wochenende die Bars und Discos ihre Türen öffneten, schlugen die Herzen höher. Partys und Clubs waren vitale Orte der Verwandlung, des Sich-Zeigen-Könnens. Hier konnten alltägliche Hetero-Masken abgelegt und andere Formen der Selbstinszenierung erprobt werden. Flirten dürfen und sexuell sein – in diesen Räumen konnte ein anderes Selbsterleben ausgelotet werden.

Das richtige Frau- oder Lesbisch-Sein und die passende Coolness waren zugleich umstritten. In den sogenannten Sex Wars der 1980er und 1990er Jahre zeichneten sich Stigmatisierungen ab. Unpolitische Party-Lesben und Lipstick-Lesben, die sich zu heterosexuell gaben, konnten nicht teilhaben.

Subkultur – Partys und Clubs

Das Big Apple, die erste länger bestehende schwule Bar, war ein bellebter Treffpunkt. Es folgte ein Spektrum verschiedenster Lokalitäten. Höhepunkt der Partykultur war die legendäre manDance. Was 1988 klein begann, mauserte sich zum überregionalen Gigaevent mit Lichtdesign, Riesensound und Erlebniskonzepten. Heute bieten in Göttingen lediglich das Café Kollektiv Krawall (früher: Kabale) mit FLINTA-Kneipe und die queerBar im Juzi noch regelmäßige Termine an. Temporäre Partyformate waren die Gö/Crazy, Diva goes queer und die Gender Crash Trash Party.

Sport

Sportliche Betätigungen schufen queeres Selbstvertrauen. In Göttingen gab es Lauftreffs wie Frontrunners oder LBSK Staffellauf und Frauenfußball. Eine rege Turniertätigkeit entwickelte die schwul-lesbische* Volleyballgruppe Queerfeldein, die beim Münchener SommerSportFestival 2002 einen ersten und bei den Eurogames 2000 in Zürich einen zweiten Platz belegte. Queerfeldein organisierte auch ein Badmintonturnier in Bremke. Sportlich unterstützen sich einige gemischte Positivengruppen in der AIDS-Krise – so kegelten die Fidelen HIVchen und die Wilde 13 für einen Freundschaftspokal um die Wette.

Öffentliche Sichtbarkeit von Privatsphäre

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Sichtbarkeit

Vor allem Ehrungen sorgen für Sichtbarkeit der Szene. In den 1980ern verlieh das Big Apple einen Pokal für verdiente Personen der Szene. Ab Oktober 1998 veranstaltete die SchwuLesBische Bar/Disco Faces Tombolas zugunsten der Aidshilfe. Bis 2005 richtete die Bar jährlich den legendären Faces Award aus. Die Pokale gingen u.a. an Jörg Lühmann, Simone Kamin und Carsten Ertl. Die Goldmarie, der queere Preis für Fleiß des Queeren Netzwerks Niedersachsen, erhielten 2015 Johanna Kaul von den LesBiSchwulen* KULTURTAGEN und 2018 Florian Zurheide für die Mitbegründung einer schwulen* Gruppe aller Altersstufen.

Bücher und Zeitschriften

Ab 1977 bot der Frauen- und Kinderbuchladen LAURA
vorher schwer erhältliche queere Bücher an. In der Stadt, die Wissen schafft verlegte der Wallstein Verlag 1994 die berühmte Schrift Heinrich Deterings über Das offene Geheimnis und viele Titel mit queerem Inhalt. Der inzwischen eingegangene feministische Verlag Daphne war vor allem wegen der Krimis bekannt, Vandenhoeck & Ruprecht publizierte Sachbücher und der Steidl Verlag Karl Lagerfeld. In Göttingen studierten die kontrovers diskutierten Autor*innen Patsy l’Amour laLove und Heinz Jürgen Voss, der Geschlecht aus biologisch-medizinischer Perspektive dekonstruierte.

Theater

Die Bretter, die die Welt bedeuten, waren Teil queerer Emanzipation. Brühwarm mit Musik von Ton, Steine Scherben (Rio Reiser) gastierte Ende der 70er Jahre u.a. im Jungen Theater. Die Göttinger Gruppen Bebretterte Rosinen und Rosa Gänseliesels erlangten überregionale Bekanntheit. 2019 räumte beim Festival Hart am Wind das Stück Ein Känguruh wie du vom Deutschen Theater den Preis der Kinder- und Jugendjury ab. Das studentische Theater im OP überzeugte mit Beautiful Thing und Bent. Von den Freien begeisterten Götz Lautenbach und Philipp-Michael Schlöter jüngst mit einer Performance über Johann Joachim Winckelmann.

Die schwule Theater-Gruppe Brühwarm (um Corny Littmann) gastierte in der Zeit von 1976 bis 1979 insgesamt siebenmal in Göttingen. Veranstaltungsorte waren das Junge Theater, die Alte Ziegelei, und die Disco Clochard. Die Mitglieder der Homosexuellen Aktion Göttingen (HAG) brachten teilweise ein eigenes Vorprogramm. Brühwarm veröffentlichte zwei LPs: Mannstoll und Entartet. Die Musik kam von Ton, Steine, Scherben.

Dragqueens und Travestie

Das Spiel mit Geschlechterrollen ist immer auch politisch, im Theater wie außerhalb. So soll die trans*Frau und Drag Ikone Marsha P. Johnson bei den Stonewall-Aufständen den ersten Stein geworfen haben. Drag, Tuntentum und Travestie haben in Göttingen Tradition. Frau Doktor Verena Breit von Flach und Patsy l’Amour laLove gehören zu den Pionier*innen. Dragqueen Renelopé Fauxwell tritt auf den CSDs und im Theater im OP auf. Gemeinsam mit ihrer Drag-Tochter Clumsy Twinkles schuf sie das Format Drag am Stecken. Sie bieten Lipsyncs, Standup-Comedy und hinterfragen Gendernormen.